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Mein wunderbares schüchternes Kind

Mut machen, Selbstvertrauen stärken, liebevoll begleiten. Die besten Strategien für alle typischen Situationen. Spiegel-Bestsellerautorin

von Inke Hummel (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Mama, das traue ich mich nicht!“ – „Ich mag nicht fragen, Papa. Kannst du?“ – Viele Eltern kennen solche Sätze und fragen sich, ob es in Ordnung ist, dass ihr Kind oft ängstlich ist, alleine spielt oder im Unterricht keinen Ton herausbringt. Wie viel Schüchternheit ist normal? Wann muss man sich Sorgen machen? In ihrem neuen Ratgeber zeigt Inke Hummel, ab wann Schüchternheit und Ängstlichkeit zum Problem werden, wie Eltern ihr Kind stärken können, damit es selbstständig wird, und in welchen Momenten sie mit Gelassenheit reagieren sollten. Zudem gibt sie viele Tipps für die Entwicklungsphasen und typischen Alltagssituationen: von ersten Spielplatzbesuchen über Trennungsängste oder Einschulung bis hin zum Umgang mit Verwandten, Fremden und Gleichaltrige

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Trau dich! Diese zwei kleinen Worte habe ich als kleiner Junge sehr häufig zu hören bekommen. Oft von meiner Mutter, seltener von meinem Vater. Ja, ich war ein schüchternes, zurückhaltendes Kind. Ängstlich trifft es vielleicht auch. Manchmal haben diese zwei Worte dafür gesorgt, dass ich über mich hinauswachsen konnte, manchmal haben sie aber auch großen Druck auf mich kleinen Mann ausgeübt. „Wie man’s macht, macht man’s falsch“, würde meine Mutter an dieser Stelle sicher sagen. „Und macht man’s falsch, ist es auch nicht richtig.“ Falsch!

Trau dich! Seitdem ich selbst Vater bin, haben auch mir diese beiden kleinen Worte schon oft auf der Zunge gelegen. Meistens in Gegenwart meiner Tochter, die in manchen Situationen sehr zögerlich war – und teilweise noch ist. Sie mag eine Verkäuferin im Spielzeuggeschäft nicht nach dem Preis eines Stofftiers fragen, das sie so gerne kaufen würde. Sie will einen Hundehalter im Park nicht ansprechen, dessen niedlichen Welpen sie gerne einmal streicheln möchte. Sie hat Angst, zu einem fremden Mädchen auf dem Spielplatz zu gehen, mit dem sie gerne spielen würde. „Papa, kannst du nicht für mich fragen?“, bittet sie dann in solchen Situationen. Natürlich könnte ich! Aber spätestens wenn sie 16 ist und einen Jungen anschmachtet, den sie gerne näher kennenlernen würde, bin ich raus aus der Nummer.

Trau dich! Diese zwei Worte gelten übrigens auch immer noch für mich, denn in jeder der geschilderten Situationen stehe auch ich selbst am Scheideweg. Nehmen wir nur mal das erste Beispiel im Spielzeuggeschäft: Stelle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes vor meine Tochter und frage die Verkäuferin nach dem Preis des Kuscheltiers? Oder – und das jetzt bitte nicht wörtlich nehmen – schubse ich meine Tochter in Richtung Verkäuferin und ermutige sie, selbst zu fragen? Ich kenne doch die Situation, ich war als Kind ja nicht viel anders. Aber ich bin nicht meine Tochter – und umgekehrt. Die (ungefragten) Ratschläge, die ich dazu von vielen Seiten bekomme, etwa von Großtanten, von Bekannten oder gar von der Verkäuferin vor Ort, machen die Entscheidung für mich nicht einfacher. Bleibt also die Frage: Wie nehme ich meiner Tochter die Schüchternheit oder Ängstlichkeit? Wie mache ich sie stark, ohne sie zu schwächen – und ohne sie zu verbiegen?

Wenn es dir ähnlich geht wie mir in den letzten Jahren, dann kann ich dir nur dieses Buch von der Bonner Familienberaterin Inke Hummel ans Herz legen. Es sorgt dafür, dass du die Schüchternheit deines Kindes besser einschätzen kannst, und gibt ganz praktische Tipps, die sich sowohl am Alter des Kindes orientieren als auch an typischen Situationen, die jeder kennt. Und es erklärt, wann dein Kind Unterstützung braucht – von dir oder sogar von einem Profi in Form eines/r Therapeut*in oder Coach. Aber das Buch will auch dabei helfen, das eigene Kind so anzunehmen, wie es ist. Manch einer wünscht sich vielleicht eine Pippi Langstrumpf als Tochter, bekommt aber eine Annika – das ist dann auch in Ordnung.

In diesem Sinne: Trau dich! Lies dieses Buch. Für dein Kind. Für dich. Für euch.

@head_of_dad: Marco Krahl,

Redaktionsleiter des Magazins „Men’s Health Dad“

(www.MensHealth.de/dad)

SCHÜCHTERNE KINDER BEGLEITEN

Schüchternheit und Ängstlichkeit sehen bei jedem Kind anders aus. Manchmal wirkt die Zurückhaltung niedlich, altersgerecht und verständlich. Oft ist sie angenehmer als die freche Wildheit eines anderen Kindes. Aber bisweilen führt sie auch zu großer Sorge bei Eltern, nicht zuletzt, wenn ihr Umfeld sie ständig darauf anspricht. Lern zu verstehen, wann Schüchternheit wirklich ein Problem ist – und wann du dich zurücklehnen kannst!

„Du sitzt ja immer nur am Rand.“

„Er sagt im Unterricht kein einziges Wort.“

„Sie weint bei jedem Wasserspritzer!“

„Euer Kind ist doch nicht normal – hockt da ewig ganz allein im Sand!“

„Ihr Kind muss jetzt wirklich mal ohne Sie klarkommen!“

„Die hängt immer nur allein in ihrem Zimmer.“

„Ich mag nicht fragen, Mama – kannst du?“

 

Kennst du solche Sätze? Fragst du dich, ob alles okay ist mit deinem Kind oder ob du etwas übersehen hast? Erwartest du, dass ein Kind anders sein sollte: mutiger, lebhafter, mittendrin. Grübelst du, ob du dein Kind vielleicht mehr fördern solltest – und hast andererseits Bedenken, dass du ihm zu viel zumuten könntest?

Hörst du womöglich von anderen, dass dein Kind Probleme habe, vielleicht sogar eine „Störung“ vorliege, „etwas Psychisches“? Kein Wunder, dass du als Mutter oder Vater dann nervös wirst. Du grübelst, du zweifelst, du sorgst dich, du redest darüber. Vielleicht fängt das Kind selbst an, seine Schüchternheit zu thematisieren, sich als ein „Problemkind“ zu fühlen.

Alle Schwierigkeiten und Probleme, die sich dann vor dir aufzutürmen scheinen, sind lösbar. Dieses Buch gibt dir Tipps an die Hand, wie du gut mit der Schüchternheit deines Kindes umgehen kannst. Und es bringt dir bei, zu erkennen, welche Hilfe tatsächlich nötig ist.

Ist dein zurückhaltendes Kind hilfsbedürftig, „gestört“? Leidet es? Muss es sich wirklich verändern? Und musst du wirklich etwas tun? Oder ist dein Kind eigentlich glücklich, eben nur anders als viele andere – anders als die Norm? Entwickelt es sich einfach auf besondere Weise? Braucht es nur bedingt Hilfe – vor allem aber Eltern, die es annehmen, wie es ist? Tragen nur andere die Sorge in sein Leben, es könne „falsch“ sein? Ist es nicht einfach nur zögerlicher als andere – und das war’s auch schon?!

Entspricht das Kind in seiner Art vielleicht nur nicht bestimmten Erwartungen und Rollenvorstellungen? Denn natürlich dürfen beispielsweise auch Jungs schüchtern sein. Dieses Temperament tritt völlig unabhängig vom Geschlecht auf, nur die Gesellschaft nimmt es bei Jungen und Männern noch negativer wahr als sowieso schon. Auch weil Männer Schüchternheit häufig weniger offen leben und sie daher bei ihnen als weniger „normal“ erscheint.

Warst du vielleicht selbst ein schüchternes Kind, durftest aber nicht du selbst sein, sondern wurdest ständig bemäkelt und überfordert? Steckt dir das in den Knochen und du kannst dein Kind deshalb nicht gut in seiner Art annehmen und begleiten?

Dieses Buch hilft dir, die Antworten auf die vorgenannten und speziell die folgenden Fragen zu finden:

In welchem Rahmen sind Schüchternheit und Ängstlichkeit schlichtweg Merkmale deines Kindes, die okay sind, wie sie sind?

Wie händelst du sie so, dass das Kind irgendwann gut allein zurechtkommt – als Hilfe zur Selbsthilfe?

Wann besteht wirklich großer Handlungsbedarf? Vielleicht sogar mit professioneller Hilfe, weil sich Probleme richtig festgesetzt haben?

Das Buch schaut auf Kinder in verschiedenen Altersgruppen und beleuchtet typische Alltagssituationen, in denen Schüchternheit oder Angst hinderlich sein können. Ein Schwerpunkt liegt auf den ersten zehn Lebensjahren, da Kinder bis zum Beginn der Pubertät schon geübter darin sind, mit ihrem Temperament umzugehen. Es gibt dir als Elternteil zahlreiche Ideen mit, wie du deinem Kind grundlegend stärkend zur Seite stehen kannst – sogar, wenn du selbst zurückhaltend bist, und auch, wenn du als Kind keine gute Begleitung im Elternhaus hattest.

Dieses Buch soll dir außerdem dabei helfen zu erkennen, welche Vorzüge dein wunderbares schüchternes Kind hat. Im besten Fall wirst du merken, dass du dich zurücklehnen und mit Gelassenheit annehmen kannst, dass es eben nur scheuer ist als andere. Mit diesem Blick kannst du Institutionen, Verwandten und auch dir selbst gegenüber deutlich machen: „Mein Kind hat gar kein Problem. Das waren nur meine Erwartungen.“ Oder: „Das sind nur die Erwartungen der anderen.“

Also: Was braucht dein Kind? Im Grunde vor allem einen wachsamen Blick von dir und in schwierigen Situationen den Anstoß zur Eigenaktivität. Denn du sollst ihm nicht sein Leben abnehmen, sondern es stärken, alle Herausforderungen selbst zu meistern.

SCHÜCHTERN – WAS HEISST DAS?

Schüchternheit beschreibt zunächst einmal eine sehr zurückhaltende Reaktion auf etwas Neues. Anstatt neugierig auf Fremdes und andere Menschen zuzugehen, zögern schüchterne Kinder. Oft spielt Ängstlichkeit dabei eine weitere Rolle: Das Neue „gruselt“. Diese Art, durchs Leben zu gehen, ist, ganz wertfrei, ein Gegensatz zu besonderer Offenheit und gelebtem Mut. Keiner der beiden Wege ist schlechter als der andere. Aber Schüchternheit gibt es in verschiedenen Formen, die du unterscheiden können solltest. Denn manchmal brauchen schüchterne Kinder vermehrt elterliche Unterstützung.

Schüchternheit ist also an und für sich nichts Negatives. Sie ist eine Eigenschaft, wie es viele gibt: rothaarig, stämmig, optimistisch, laut, sensibel. Ein schüchterner Mensch geht langsamer in ungewohnte Situationen. Aber Schüchternheit ist vielgestaltig, weil sie mit anderen Merkmalen zusammen vorkommt, die stark oder schwach ausgeprägt sein können. Zum Beispiel leichtes Erschrecken, erhöhte Sensibilität, außergewöhnliches Vorausplanen, teilweise auch sprachliches Geschick und gutes Einfühlungsvermögen – Schüchternheit ist bunt.

Auch Ängstlichkeit, die manchmal hinzukommt, ist einfach eine Eigenschaft; sie kann aber noch einschränkender sein. Denn Angst spürt man heftig, manchmal sogar mit dem ganzen Körper. Sie kann nervös machen und Zwänge auslösen. Kinder können unter ihr leiden.

Sowohl Schüchternheit als auch Ängstlichkeit sind mit innerer Anspannung beim Erkunden der Welt verbunden. Diese kann unproblematisch und erträglich, aber je nach Ausprägung auch kaum auszuhalten sein. Schließlich können im extremsten Fall Angst und Anspannung dazu führen, dass sich ein Kind minderwertig fühlt und so eingeschränkt, dass es nicht mehr vollwertig am Leben teilhaben kann. Irgendwo zwischen diesen Polen wird dein Kind vermutlich stehen.

Auffällige Gehemmtheit kann auch daher kommen, dass bei einem Kind Seh- oder Hörvermögen, Motorik oder Wahrnehmung eingeschränkt sind. Der Kinder- und Jugendmediziner Dr. med. Gerald Hofner (derkinderarztblog.com) beruhigt aber: „Alle diese Bereiche sind in den Standardvorsorgeuntersuchungen enthalten. Da sollte nichts übersehen werden können.“

Wenn du dennoch das Gefühl hast, der/die Kinderärzt*in hat etwas nicht genau untersucht, bitte sicherheitshalber eine/n Fachärzt*in um eine Zweitmeinung.

In welcher Form und zu welchen Gelegenheiten begegnen uns Schüchternheit und Ängstlichkeit?

Außenwirkung: Viele Menschen sind eher zurückhaltend in ihrem Auftreten, ohne dass dem ein schüchternes Temperament zugrunde liegt. Oft hat das kulturelle Gründe und gilt als Zeichen von Höflichkeit. Die Zurückhaltung ist ihnen möglich durch gute Selbstkontrolle und abwartendes Beobachten ihrer Umgebung. Dadurch können sie schüchtern und ängstlich wirken, sind es aber nicht.

Babyalter: Manche Menschen sind nur als Babys auffallend scheu, vorsichtig und ängstlich, dann verliert sich diese Eigenschaft.

Phasen: Viele Kinder zeigen sich nur phasenweise schüchtern, oft im Zuge eines Entwicklungsschubs. Haben sie eine neue Fähigkeit erworben, ist die Zurückhaltung wie weggeblasen.

Auslöser: Andere zeigen Ängste immer mal wieder, aber nicht in jeder Begegnung mit Unvertrautem (beispielsweise nur in Bezug auf Essen, auf große Menschenmengen oder wenn sie frei sprechen sollen). Sie sind im Grunde nicht mal schüchterne Menschen, sondern können durchaus als sehr selbstbewusst und mutig wahrgenommen werden. Ihre Angst ist nur eine situationsbedingte.

Empathie: Wieder andere erscheinen uns scheu, sind aber eigentlich einfach besonders empathisch mit extrem gutem Taktgefühl. Sie bremsen sich gegenüber bestimmten Menschen stark aus.

Erfahrung: Einige nehmen sich erst später im Leben zurück, als Reaktion auf bestimmte Erfahrungen (wie zum Beispiel die Trennung der Eltern, Leben mit Handicap oder Hochbegabung, Traumatisierung durch eine Grenzerfahrung wie einen Unfall oder auch einfach nur als Folge des Erziehungsstils ihrer Eltern).

Temperament: Und wieder andere Menschen tragen diesen Grundzug deutlich in sich, ohne dass er sich stark verändert (verbunden mit verschiedenen weiteren, recht typischen Eigenschaften) – ihr Leben lang.

Besonders um solche Kinder geht es in diesem Buch: schüchtern, still, vorsichtig, ängstlich, zurückhaltend, grüblerisch, ruhig. So ist ihr Temperament. Wie sie damit umzugehen lernen, ist entscheidend! Voller Selbstvertrauen und irgendwann gut ohne elterlichen Beistand – oder kraftlos, träge und leidend?

Schüchternheit als Chance

Vor allem diejenigen, die vom Wesen her schüchtern sind, erhalten oft eine Art Stempel: Die Eigenschaft gilt als negativ und besorgniserregend.

Du als Elternteil sorgst dich vielleicht aus einem der folgenden Gründe:

Dein Kind …

findet kaum Freund*innen.

hängt häufig an dir und ist immer ein bisschen „besonders“.

geht immer wieder zwischen anderen unter.

braucht dich ständig als Rückendeckung („Mamas Rockzipfel“), weshalb das Bindungsband zwischen euch gar nicht länger werden will.

Die Verwandtschaft …

bemängelt die Unselbstständigkeit deines Kindes.

regt sich über fehlende Höflichkeitsfloskeln auf.

vermutet, dein Kind werde noch mit 15 bei dir im Bett schlafen und mit 32 noch zu Hause wohnen.

Der Kindergarten und die Schule …

sprechen von Defiziten.

sind irritiert, weil dein Kind vorwiegend allein sein möchte und wenig spricht.

kritisieren fehlende Führungswünsche in Gruppen.

raten vielleicht zu Gesprächen mit dem/der Kinderärzt*in und einem/r Kinderpsycholog*in.

Ja, es ist normal, dass wir Menschen miteinander agieren wollen. Dass wir sozial sein wollen. Wir brauchen das Miteinander. Wenn jemand das augenscheinlich nicht möchte, machen wir uns Sorgen. Doch Interaktion kann nun mal unterschiedlich aussehen: Das eine Kind spielt mit der halben Kitatruppe, ein anderes sitzt nur daneben, hört zu, schaut verstohlen hinüber und wirkt unbeteiligt. Doch zu Hause spielt es vielleicht alles Gehörte mit seinen Plüschtieren nach. Beides ist sozial – nur anders!

Schüchterne brauchen einfach länger, bis sie an einem Gespräch oder einer gemeinschaftlichen Aktivität so teilnehmen können wie andere. Geben wir ihnen Zeit, stellen wir später oft keinen Unterschied mehr zu ihren Mitmenschen fest. Wir brauchen nicht nur Anführer*innen, Selbstdarsteller*innen und Rampensäue! Bunt ist gut. Vielfalt ist ein Gewinn.

Der negative Blick auf das Scheue ist typisch für unseren Kulturbereich – in Asien beispielsweise sieht das ganz anders aus: Da wird „schüchtern“ mit „intellektuell“ und „begabt“ assoziiert; unabhängig vom Geschlecht. Ganz zutreffend ist die Verknüpfung so natürlich nicht, aber der Gedanke kann dabei helfen, den Blick mehr auf das Positive an einem wunderbaren schüchternen Kind zu lenken. Denn das ist da! Oft sind scheue Menschen sehr anpassungsfähig, handeln geplant und ehrgeizig. Häufig können sie sich unheimlich gut in eine Sache vertiefen, von der andere längst die Finger gelassen hätten. Wir müssen genauer hinsehen, um ein schüchternes Kind ganz wahrzunehmen und das Positive zu sehen.

Hast du schon genau hingeschaut?

Bei scheuen und ängstlichen Menschen erfolgt aber schon bei kleinen Auslösern eine übermäßige Reaktion der Amygdala. Sie werden nervös, beginnen zu schreien, flüchten oder suchen verstärkt Nähe und Bindung. Mit Unterstützung können sie jedoch lernen, damit ganz gut und sozialverträglich umzugehen. Zugewandt begleitende Eltern, die ihren Kindern Stück für Stück etwas zutrauen, sind hier das beste Umfeld. – Das kannst du leisten.

Schüchternheit, Introvertiertheit und große Ängstlichkeit

Schüchternheit kann mit starker Introvertiertheit zusammenhängen, muss aber nicht. Und selbst wenn, ist das nichts Negatives. Introvertiertheit ist kein Defizit! Sie wird oft missverstanden als ein Synonym von Schüchternheit. Doch es gibt auch sehr offene, mutige, draufgängerische Menschen, die introvertiert sind.

Introvertiert zu sein bedeutet schlichtweg, die Kraft zur Regeneration aus sich selbst zu ziehen, Erholung allein in sich selbst zu finden. Introvertierte Menschen brauchen Ruhe und Entspannung. Sie finden sie vielleicht bei einem guten Buch, beim Mittagsschlaf, beim Puzzeln oder beim Yoga – ganz bestimmt nicht in geselliger Runde, beim Mannschaftssport oder in einer Selbsthilfegruppe, in der noch mehr Interaktion nötig ist. Nach der Ruhepause können sie wieder losziehen in die Welt und ihr je nach Temperament eben schüchtern, langsam und nachdenklich oder mutig, spontan und laut begegnen.

Sprich: Der Begriff „Introvertiertheit“ bewertet nicht, sondern beschreibt nur. Niemand muss (und kann) sie „abtrainieren“! Bist du als Elternteil eher extrovertiert, kannst du ein introvertiertes Kind (oder auch eine/n introvertierte*n Partner*in oder Freund*in) wahrscheinlich nicht so leicht annehmen. Hier liegt es an dir, die Andersartigkeit zu tolerieren.

Der Zusammenhang zur Ängstlichkeit ist nochmals ein anderer: Ängste sind normal, wichtig und gesund! Schüchternheit kann in Befangenheit und Ängsten oder sogar ungesunden Zwängen und der Abhängigkeit von der Meinung anderer gipfeln. Doch das ist nicht immer so. Zeigen sich diese Verhaltensweisen jedoch in übertriebenem Maße, schränken sie dein Kind immer wieder in seinem Tun ein und/oder rufen sogar starke körperliche Reaktionen hervor, musst du genauer hinschauen, was die Ursache ist und ob dein Kind Hilfe benötigt. Dieses Buch wird dir helfen, das richtig einzuschätzen.

Das heißt: Schüchternheit kann nur Vorsicht sein und muss nicht übermäßige Ängstlichkeit zur Folge haben. Und Ängstlichkeit wiederum kann heftige Stressreaktionen hervorrufen und sehr extrem sein, muss aber nicht.

Schüchternheit und Ängstlichkeit, unter denen Menschen nicht leiden und die sie selbst nicht stören, sind erst einmal okay und von uns anzunehmen – als Wesensart und in ihren Folgen. Du, euer Umfeld und dein Kind müssen sie akzeptieren!

Oftmals zeigt sich, wenn wir genauer hinschauen, dass der Apfel gar nicht weit vom Stamm gefallen ist und mindestens ein Elternteil auch eher zurückhaltend ist, aber zurechtkommt. Erwachsene haben sich oft damit abgefunden und sich gut eingerichtet. Oder sie wurden als Kinder ständig dazu angehalten, gegen ihr Temperament zu handeln und blenden nun ihre eigene Schüchternheit im Alltag aus (was ein ständiger Kampf sein kann). Erwachsene werden aber auch nicht mehr so oft hinterfragt wie Kinder, die wir ab Betreuungsbeginn nach bestimmten Schemata beurteilen.

Vielleicht ist ein Elternteil die Blaupause fürs schüchterne Kind. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf können wir ein schüchternes, ängstliches Kind noch mal besser verstehen, annehmen und auch verteidigen.

Mit Schüchternheit umgehen

Es gibt wichtige Aspekte, die du immer beherzigen solltest, wenn dein Kind schüchtern ist:

Nimm dein zurückhaltendes Kind ernst und lach es nicht aus.

Zeig Mitgefühl. – „Du fühlst dich unwohl? Ich bin da!“

Versuch nicht, es zu verändern, und kommentier nicht andauernd sein Tun. Das würde eventuell noch mehr Rückzug verursachen.

Bewerte die Schüchternheit nicht negativ und geh nicht davon aus, dass sie schlimme Auswirkungen haben wird.

Wenn du selbst ein schüchternes Kind warst, das nicht erleben durfte, dass es so okay ist, solltest du dir überlegen, was dich gestört und dir dein Leben schwer gemacht hat – und es anders machen!

Schau hin, ob dein Kind tatsächlich ein Problem hat (oder eventuell ihr als Familie) – oder ob nur andere ein Problem sehen. Frag es selbst, wenn möglich.

Lass dein Kind immer deutlich spüren, dass du es so liebst, wie es ist, und nicht etwa verändern willst, damit es dir oder anderen besser gefällt. Formulier deine Sicht auf dein Kind immer positiv, nicht problematisch und voller Kritik! Selbst ein „Deine Vorsicht ist für mich manchmal anstrengend“ kannst du zugewandt kommunizieren, wenn du ergänzt, dass DU das von nun an anders angehen möchtest.

Hilf deinem Kind einfühlsam, aber führend mit seiner Wesensart immer selbstständiger umzugehen und sich selbst zu mögen. – „Schüchterne haben es in unserer Gesellschaft nicht immer einfach. Ich möchte dir helfen, damit es dir leichter fällt.“

Sprich nur Aspekte des kindlichen Wesens kritisch an, wenn du genau abgeklärt hast, dass diese seine Entwicklung behindern und ihr an ihnen arbeiten müsst: „Du leidest darunter – da müssen wir etwas tun, mein Schatz.“

Je jünger dein Kind ist, desto aktueller und konkreter müssen eure Gespräche sein: „jetzt gleich, morgen“ sind die Kategorien, in denen du mit ihm denken musst, nicht „nächstes Jahr“.

Nimm ihm nicht ständig alles ab, sondern ermutige dein Kind immer wieder zum Selbermachen.

Stell deine Erwartungen zurück: Du hast dir ein Draufgängerkind gewünscht, aber nicht bekommen? Das ist ein Punkt, an dem du arbeiten musst – nicht dein Kind.

Vermeide Geschlechterklischees.

Hilf deinem Kind zu erkennen, worin es richtig gut ist. Such bewusst nach individuellen Vorzügen: Es ist wahrscheinlich nicht immer traurig-allein, sondern oft glücklich-unabhängig?! Es wird nicht dauernd ausgeschlossen, sondern verfolgt ganz gerne zielstrebig seinen Plan?! Es verbiegt sich nicht ständig, sondern ist anpassungsfähig und mag es so?! Es ist vielleicht kein draufgängerischer Teamplayer, aber ein einfühlsamer, sehr sozialer Helfer?! Es ist sicher in ganz vielem ein wunderbares schüchternes Kind! Sag es ihm.

Unterstütz dein Kind bei einem möglichst entspannten, reizarmen, langsamen, vorhersehbaren Weg durchs Leben. Denn ein schüchterner Mensch fühlt sich am wohlsten, wenn er nicht beständig und in Hektik Neues kennenlernen und über seinen Schatten springen muss. Dies gänzlich zu vermeiden, ist nicht gut (und auch kaum möglich), aber ihn ständig herauszufordern, solltest du definitiv sein lassen.

DER CHECK – BRAUCHT DEIN KIND HILFE?

Schüchternheit und Ängstlichkeit sind im Alltag oft herausfordernd, aber keine echten Probleme, die du ausmerzen musst. Schüchternheit als Persönlichkeitsmerkmal empfinden Eltern oder das Umfeld zwar häufig als ungewohnt oder störend. Wichtig ist jedoch allein die Frage, ob und wobei dein Kind selbst leidet. Oder ihr als Familie.

Ein schüchternes Kind solltest du zunächst annehmen. Dein Kind ist gut so, wie es ist: ein wunderbares Kind. Es braucht länger als andere im sozialen Miteinander und verfolgt hier andere Strategien. Es ist ängstlich und zögernd, aber dabei vielleicht fröhlich, selbstbewusst und glücklich. Auch andere Persönlichkeitsmerkmale haben Nachteile.

Du bist aber nicht sicher, ob dein Kind glücklich ist? Du hast Angst, es leidet unter seiner Schüchternheit? Wir checken das.

Was sind deine Aufgaben?

Dein Kind fremdelt, dein Kind hat Angst vor Badeseen, dein Kind spricht mit niemandem außerhalb der Familie, dein Kind macht in der Schule mündlich kaum mit? Egal, was euer Sorgenthema ist: Beachte bei allen Angelegenheiten rund um die Schüchternheit deines Kindes (auch unabhängig davon, in welchem Kapitel dieses Buches du nachschlägst) die folgenden grundlegenden Fragen:

Musst du etwas tun?

Beeinträchtigt das gezeigte Verhalten dein Kind, seine Entwicklung oder euer Familienleben?

Diese Frage solltest du im Verlauf der Lektüre und mithilfe von Check A beantworten können, vielleicht aber auch schon spontan. Lautet die Antwort „Nein (Das Kind ist vorsichtig, aber kommt recht gut durchs Leben)“, musst du nicht viel unternehmen. Lies dann vor allem die Kapitel „Dein Kind und seine Persönlichkeit“ zur grundlegenden Stärkung des schüchternen Kindes. Ist deine Antwort ein „Ja“, kommst du zur nächsten Frage:

Was musst du tun und was musst du lassen?

Inwieweit musst du dein Kind vor anderen Menschen oder bestimmten Erfahrungen schützen? Wann nicht?

Wie kannst (und musst!) du es mit kleinen Zielen fordern, um ihm zu einem leichteren Leben zu verhelfen? Wann wird aus „Fordern“ ein „Überfordern“?

Inwiefern bist du deinem Kind ein gutes Vorbild? Wo solltest du auch an dir arbeiten?

Hat dein Kind eigene Ideen?

Wie kannst du dein Kind allgemein in seinem Selbstwertgefühl stärken und wo musst du darauf achten, es nicht zu schwächen?

Die einzelnen Themenkapitel unterstützen dich dabei, diese Fragen zu beantworten und deinem Kind im Alltag zu helfen. Es bleibt die letzte Frage:

Wen musst du mit ins Boot holen?

Kannst du all das allein leisten? Wer könnte dich unterstützen (in deinem Umfeld oder von professioneller Seite)?

Wen in eurem Umfeld musst du ansprechen/sensibilisieren und vielleicht auch um Zurückhaltung bitten?

Auch hier helfen dir die einzelnen Kapitel sowie der Check B dabei, genaue Antworten zu finden, je nachdem, was eure drängendsten Themenbereiche sind.

Mach dir bitte Notizen, wenn du mit dem Buch arbeitest. Mit kleinen Gedankensammlungen auf Papier oder Fahrplänen übersiehst du nichts. Gut ist es, Bereiche, die dich sorgen, über mindestens drei Wochen zu beobachten, um dann zu entscheiden, ob dein Kind wirklich beeinträchtigt ist. Diejenigen, an denen ihr schließlich gemeinsam arbeiten wollt, solltest du hingegen mindestens drei Monate beobachten, um entscheiden zu können, ob sich etwas verändert.

Check A – Ist dein Kind tatsächlich beeinträchtigt?

Nimmt dein Kind am Leben teil, aber fühlt sich dabei offensichtlich beständig unwohl und gestresst? Leidet es und spricht darüber? Stößt es ständig auf Schwierigkeiten? Wirkt die Schüchternheit sich definitiv nachteilig aus? Dann musst du helfen – aber achtsam und als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Mach hier den Check und kreuze an, was auf deine Familie zutrifft:

Dein Kind …

image lässt sich ständig von anderen bevormunden und wird auch von ihnen verletzt.

image hat keinen starken Rücken, um sich gegen ungute Einflüsse durchzusetzen, und wirkt eher wie ein/e „Mitläufer*in“.

image wird körperlich sichtbar nervös und entwickelt vielleicht sogar Ticks, sobald es mit Neuem konfrontiert wird.

image fragt immer nach Hilfe und zeigt sich sehr unselbstständig.

image läuft vor Problemen davon, vermeidet alles Schwierige und sucht gar nicht mehr nach Hilfe.

image ist so zurückgezogen, dass es passiv und verträumt wirkt und nicht mehr allein konzentriert spielen kann.

image zeigt und äußert, dass es sich selbst einen niedrigen Wert beimisst.

image sagt offen, dass es einsam und traurig ist.

image würde bestimmte Situationen gerne meistern, aber schafft es nie.

image erfährt ständig Ablehnung und wird dadurch immer antriebsloser.

image blickt stark pessimistisch aufs Leben.

image ist übermäßig in seinen Ängsten gefangen, die mittlerweile ein Dauerthema sind.

image verhält sich so, dass euer Familienleben dadurch kontinuierlich und stark eingeschränkt ist.

Trifft auch nur ein Punkt aus der Liste zu, solltest du dich genau einlesen in die Unterkapitel für das Lebensalter deines Kindes, denn vermutlich braucht es tatsächlich mehr Unterstützung. Außerdem solltest du mit den Tipps aus den Kapiteln „Dein Kind und seine Persönlichkeit“ arbeiten und die folgende Liste zur Soforthilfe beherzigen.

Kreuzt du drei oder mehr Punkte an, ist immer noch die Arbeit mit diesem Buch angeraten. Aber du solltest den Check nach etwa drei Monaten wiederholen. Setzt du dann weiterhin nahezu die gleichen Kreuze, halte mit einem/r Familienberater*in Rücksprache, eventuell auch mit deinem/r Kinderärzt*in. Denn vielleicht wird die Unterstützung durch dich allein nicht ausreichen. Bearbeite unbedingt auch noch Check B zum Thema „Spezialist*innen“.

Soforthilfe bei Schüchternheit

Bewusster wahrnehmen: Achte darauf, dein Kind und seinen Alltag genauer im Blick zu haben, indem du Notizen machst und so längerfristig nachverfolgen kannst, was passiert und was immer wieder schiefläuft. Ohne solche Protokolle behält man leicht nur das Schlechte im Gedächtnis und bemerkt kleine Veränderungen nicht.

Bewusster austauschen: Such mit deinem Kind häufiger das Gespräch, um sein Erleben besser einschätzen und ihm besser durch den Alltag hindurchhelfen zu können sowie mehr Rückversicherung zu bieten. Zeig, dass du da bist, dich für dein Kind interessierst und es liebst!

Vielfalt sehen: Aber thematisiere nicht nur ständig die Schüchternheit. Dein Kind ist so viel mehr!

Kind aktivieren: Setzt gemeinsam kleinschrittig Ziele, die dein Kind erreichen möchte, und achte du dabei darauf, dass es sich als aktiv und problemlösend erlebt. Nicht du sollst seine Schüchternheit umschiffen – dein Kind soll selbst zurechtkommen. Die einzelnen Themenkapitel geben dir Impulse.

Selbstbewusstsein stärken: Beginn mithilfe dieses Buches, gezielt mit deinem Kind an seiner Schüchternheit und damit zusammenhängenden Themen wie Pessimismus, Angst oder niedrigem Selbstwert zu arbeiten, wenn es offen unter ihnen leidet – aber eines nach dem anderen. Dazu braucht ihr nicht sofort eine/n Expert*in an eurer Seite, denn vieles kannst du selbst probieren, anregen und dann abwarten.

Entspannung planen: Vermeide gezielt Stressoren, die das Kind überreizen würden.

Dein Ziel sollte dabei immer sein, dein Kind zu stärken! Für sich. Für seinen Lebensweg. Für seine Kompetenz. Das, was andere gerne hätten, das, was Institutionen sich vorstellen, damit der Alltag mit deinem Kind dort leichter wird, irgendwelche Wunschbilder, auch deine eigenen Ideale, die fern vom eigentlichen Wesen deines Kindes sind, sind nicht relevant! Es geht in erster Linie um das Kind. Der genaue Weg kann keinem Muster folgen, du musst ihn individuell gestalten. Alle Impulse in diesem Buch müsst ihr an dein Kind und eure Situation anpassen.

DAS MACHT GUT BEGLEITENDE ELTERN AUS

Interview mit dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. Oliver Dierssen

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Was können Sie Eltern grundlegend mitgeben für den Umgang mit ihrem schüchternen Kind? Wie sehr sollen Eltern ein scheues Kind „schubsen“? Und wie erkennen Eltern, ob sie selbst Teil der Ursache sind?

Viele Kinder haben Ängste, und schüchtern sind die meisten Kinder an dem einen oder anderen Punkt in der Entwicklung. Bedenklich ist das nicht, auch wenn kindliche Ängste manche Eltern stark verunsichern oder selbst ängstigen. Mitunter haben Eltern das Bedürfnis, ein Kind etwas in die richtige Richtung zu schubsen, es zu ermutigen, vielleicht auch etwas zu seinem Glück zu zwingen. Grundsätzlich ist das keine ganz verkehrte Idee. Denn ebenso, wie wir Ängste erlernen oder auch abschauen, können wir Ängste wieder verlernen oder Mut von Vorbildern lernen. Bei diesem Vorgehen sind aber Geduld, Sanftmut und Fingerspitzengefühl gefragt.

Immer wieder erlebe ich Eltern in der Praxis, die ihre Kinder sehr engmaschig regulieren oder lenken möchten und das kindliche Verhalten kleinteilig kommentieren. Das wirkt auf Kinder oft verunsichernd, mitunter noch weiter ängstigend. Kritisieren Eltern ihre Kinder in so hoher Regelmäßigkeit, kann das die Eltern-Kind-Beziehung belasten. Das Selbstvertrauen sinkt, wenn man immerzu Verbesserungsvorschläge erhält. Dies kann zu hoher Anspannung und Unsicherheit führen und im Extremfall sogar psychische Störungen begünstigen. Ein überkontrollierender Erziehungsstil begünstigt beispielsweise Trennungsängste.

In den folgenden Kapiteln finden sich typische Bereiche, die schüchternen Kindern Probleme verursachen. Sowie Ideen, wie und wobei du als Elternteil tätig werden kannst, um dein Kind auf seinem Weg in die letztendliche Selbstständigkeit zu unterstützen. Wichtig ist aber, dass es im Umgang mit Schüchternheit und Ängstlichkeit ähnlich ist wie bei vielen anderen Gefühlen und Eigenschaften, wie etwa Wut, Aggression, Lügerei, Eifersucht oder auch Anhänglichkeit: Es reicht nicht, bestimmte Alltagssituationen punktuell anders anzugehen, sondern es braucht einen Rundumblick und eine grundlegende Stärkung des Kindes fürs Leben. Die einzelnen Momente sind wichtig, und dafür bietet dieses Buch ganz viele Impulse. Aber vor allem muss „das große Ganze“ stimmen: Schätz die Lage gut ein, begleite dein Kind mitfühlend, stärk sein Selbstbewusstsein und lass es selbst aktiv werden.

Check B – Brauchst du die Hilfe eines/r Spezialist*in?

Schüchternheit ist keine Krankheit und kann somit auch nicht kuriert werden. Sie geht nicht weg, aber der Umgang mit ihr kann und sollte geübt werden. Rat und Hilfe von außen – zunächst über den/die Kinderärzt*in – solltest du holen, wenn die Folgen der Wesensart extrem bedrückend werden oder du nach etwa einem Vierteljahr siehst, dass deine gebauten Brücken und euer „Training“ mithilfe dieses Buches zu Hause keine Wirkung haben. Kreuz an, was deiner Beobachtung entspricht – jetzt und erneut in drei Monaten:

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Beobachtest du auch nur einen Aspekt davon über etwa drei Monate hinweg, such dir definitiv Unterstützung: Frag lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bei eurem/r Kinderärzt*in oder einer anderen Hilfsstelle nach. Tausch dich mit allen Menschen aus, die deinem Kind enge Bezugspersonen sind, um die Lage gut einschätzen zu können. Erscheint dir die erste Fachmeinung nicht als eindeutig genug, ist es auch absolut in Ordnung, eine zweite einzuholen. (Die aufgeführten Störungen sind nur Hinweise, in welche Richtung du forschen solltest; natürlich muss sich keine Diagnose ergeben.)

Führ Erstgespräche bei Beratungsstellen oder Therapeut*innen möglichst ohne dein Kind. Darum kannst du immer bitten. Denn sollte es nach Meinung der Fachperson nicht zu einer weiteren Diagnostik kommen müssen, kommt dein Kind gar nicht erst mit dem Thema in Berührung, es könne „ein Problem“ haben.

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WENN EIN PSYCHOLOGE NOTWENDIG IST

Interview mit dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. Oliver Dierssen

Woran merken Eltern, dass bei ihrem Kind ein echter Leidensdruck vorherrscht, der auch psychologische Hilfe erforderlich macht?

Um herauszufinden, ob ein echter Leidensdruck vorliegt, würde ich das Kind zunächst einfach fragen: „Sind die Ängste sehr schlimm für dich? Kennst du schon Dinge, die dir helfen oder möchtest du Hilfe von mir bekommen, damit die Ängste weggehen?“ Wenn das Kind signalisiert, dass es Hilfe braucht, sollte es auch welche bekommen. Wenn ich als Elternteil geduldig und zuversichtlich sowie gut darin bin, mir Tipps und Informationen zu besorgen, müssen nicht gleich Fachleute eingeschaltet werden. Voraussetzung ist, dass zwischen Kind und Eltern ein Pakt geschlossen werden kann, gegen die Ängste zu trainieren. Das funktioniert besonders gut bei gerichteten Ängsten, die man auch spezifische Phobien nennt. Diese können sich zum Beispiel auf bestimmte Tiere beziehen, auf das Schwimmen oder das Radfahren ohne Hilfe. Hier hilft es, in kleinen Schritten das Mutigwerden zu trainieren. Auch gegen soziale Ängste – also vor allem das freie Sprechen vor bekannten oder unbekannten Personen – kann gut in kleinen Schritten trainiert werden.

Hilfe von außen ist oft nötig, wenn dieser „Angst-Trainings-Pakt“ nicht gelingt. Um es ganz deutlich zu machen: Der Angst-Trainings-Pakt zwischen Kind und Elternteil zielt stets darauf, dass Ängste durch Training weniger werden. Im Training muss es darum gehen, sich mit der angstauslösenden Situation auseinanderzusetzen. Der Pakt ist nicht möglich, wenn Eltern selbst tatkräftig daran mitwirken, diese angstauslösende Situation zu vermeiden, um dem Kind die Unannehmlichkeiten zu ersparen. Bei schüchternen Kindern sehen wir viele Eltern, die sich angewöhnt haben, für das Kind zu sprechen, ihm vielleicht sogar ins Wort fallen, wenn es leise und stockend spricht oder sogar vor anderen Kritik üben: „Du musst jetzt mal lauter sprechen, wenn du möchtest, dass man dir zuhört.“ Da solche Anweisungen oder Vorwürfe kontraproduktiv sind, erleben sich Eltern und Kinder als unwirksam, es kommt zu Vorwürfen und verdeckter oder offener Wut. Es ist dann für alle Beteiligten leichter, wenn in der Therapie eine neutrale, einfühlsame und fachkundige Person dem Kind und den Eltern erklärt, wie Ängste funktionieren, wie sie sich erhalten und wie sie wieder schrumpfen können. Gerade bei gerichteten Ängsten sind oft schon nach wenigen Stunden gute Erfolge zu sehen – vorausgesetzt, dass Kinder und Eltern bei der Therapie mitwirken.

Ein besonderer Fall sind Trennungsängste, die im ausgeprägten Fall ein schweres kinderpsychiatrisches Krankheitsbild darstellen und mitunter sogar stationär behandelt werden müssen. Bei den Trennungsängsten ist die Interaktion von Eltern und Kind oft beeinträchtigt. Die Erziehungspersonen sind nicht selten schwer belastet durch die Symptomatik der betroffenen Kinder. Deswegen rate ich hier dazu, eher etwas zu früh als zu spät fachkundige Hilfe einzuholen. Spätestens wenn aufgrund von Trennungsängsten die Schule versäumt wird, sollte eine unverzügliche Vorstellung in einer kinderpsychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis erfolgen.

SCHÜCHTERN IM BABY-, KLEINKIND-UND VORSCHULALTER (0–5 JAHRE)

Schon im Baby- und Kleinkindalter kann sich Schüchternheit bemerkbar machen. Bereits dann machen sich viele Eltern Sorgen oder bekommen beunruhigende Fragen gestellt. Dabei geht man davon aus, dass ein Drittel aller Kinder im Kindergartenalter als schüchtern zu bezeichnen ist – das ist eine Menge! Diese normale, nicht ungesunde Schüchternheit begegnet dir im Alltag zwischen Spielplatz, Krabbelgruppe und Kita, bei ersten Hobbys und im Umgang mit der Verwandtschaft und Freund*innen. Du kannst dein Kind so stärken, dass es bis zum Schulalter gut mit seinem Temperament umgehen kann.

Das erste Mal, dass Eltern im Leben ihres Kindes mit dem Stempel „schüchtern“ konfrontiert werden, ist oft die sogenannte Fremdelphase. Diese zeigt sich bei fast allen Kindern deutlich irgendwann zwischen ihrem vierten und zehnten Lebensmonat, im Schnitt also mit acht Monaten und wird daher auch „Achtmonatsangst“ genannt. Teilweise hält sie sogar bis zum dritten Geburtstag an.

Fremdeln bei Babys

Manchen Babys merkt man die Fremdenangst fast gar nicht an, während andere einige Tage lang nur an ihrer ersten Bezugsperson hängen, anderen Menschen aber zugewandt bleiben. Und wieder andere wirken selbst auf einem sicheren Arm komplett verängstigt. Die Spannbreite ist groß und alles ist „normal“. Je nach Situation kann das Fremdeln sogar bei ein und demselben Kind zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden aussehen.

Fremdeln ist ein normales Verhalten. Seine Intensität unterscheidet sich je nach Wesensart und bisherigen Erlebnissen.

Temperament: Ist ein Kind schüchtern, sensibel, ängstlich, kann starkes Fremdeln eher auftreten; ist es hingegen neugierig oder furchtlos, fremdelt ein Kind in der Regel weniger.

Erfahrungen: Reagierten die Bezugspersonen bisher auf die vom Baby gezeigten Zeichen prompt und zuverlässig oder aber verzögert und unklar? Lebt(e) es in sicherer Atmosphäre oder aber in einem belasteten Umfeld?

GUTE BINDUNG ALS SCHLÜSSEL

Hinter starkem Fremdeln steckt normalerweise keine Bindungsproblematik. Tatsächlich ist es sogar so, dass ein Baby in der Regel umso früher und stärker fremdelt, je intensiver und inniger die Eltern-Kind-Beziehung ist – ein normaler und kein bedenklicher Verlauf! Bleib stark, wenn dir andere vorwerfen, du würdest das Kind zu eng an dich binden, und es fremdle deshalb. Du reagierst ganz normal und gesund auf sein starkes Nähebedürfnis.

Die Stärke des Fremdelns sagt nicht zwingend etwas über die weitere Entwicklung aus: Ein stark fremdelndes Kind kann ein sehr schüchternes Temperament haben, das dann mehr und mehr zu Tage tritt, muss aber nicht! In dieser Phase im Babyjahr sind Fremdenangst und Schüchternheit kaum zu unterscheiden – das fällt selbst im Kleinkindalter noch schwer. Also stemple dein Kind nicht gleich als schüchtern ab und sorg dich nicht. Das verläuft sich oft. Ein schüchternes und ängstliches Verhalten im ersten Lebensjahr oder darüber hinaus bedeutet nicht, dass es für immer so bleibt oder dass du etwas falsch gemacht hast. Unkenrufe solltest du gelassen hinnehmen und dich klar dagegen positionieren. Du hast dein Kind gut im Blick, begleitest es helfend und hast vor allem die Zeit auf deiner Seite – denn Lernen braucht immer Zeit, auch das soziale Lernen. Du kannst viel tun.

Wenn dein Baby oder Kleinkind also fremdelt, beachte Folgendes:

Nimm seine Zeichen ernst und reagiere prompt darauf. Nicht nur wenn es Müdigkeit oder Hunger anzeigt, sondern eben auch, wenn es fremdelt. Ein Kind gegen sein deutlich zum Ausdruck gebrachtes Unwohlsein bei einem anderen Menschen zu lassen, ist kontraproduktiv! Dadurch lernt es nur, dass es nicht sicher ist, dass seine Bezugsperson es nicht ernst nimmt. Es möchte aber wissen, wer rasch und zuverlässig reagiert.

Lass dir eine gute Bindung an dein Kind, die ja ein verstärktes Fremdeln verursachen kann, nicht schlechtreden. Behalte dein zugewandtes Verhalten bei!

Gib deinem Kind Zeit.

Überleg, ob dein Kind schlechte Erfahrungen gemacht haben könnte und vermeide diese zukünftig (z. B. Schlaftrainings-Versuche, Trennungen durch gesundheitliche Erfordernisse nach der Geburt, Babysitter-Zeiten, in denen es nicht sicher begleitet wurde).

Gewähr deinem Kind in akuten Fremdelmomenten immer Blickund Körperkontakt.

Biete ihm stets an, Fremden zu begegnen, aber nimm an, wenn dein Kind in dem Moment „nicht so weit ist“.

Arbeite an dir und deinen Erwartungen, falls dich das Fremdeln sehr verunsichert.

Bezieh auch dein Umfeld mit ein:

Mach den Menschen, bei denen das Kind fremdelt, deutlich, dass sie das nicht persönlich nehmen dürfen. Dein Kind möchte nur herausfinden, wer zu ihm gehört, und braucht dafür Zeit.

Du kannst andere bitten, dein Baby in neuen Situationen erst einmal zu ignorieren und nur mit dir zu sprechen. Fühlt es sich auf deinem Arm unbeobachtet, kann es in Ruhe Sicherheit schöpfen und selbst zeigen, wann es bereit ist, Kontakt aufzunehmen.

Bleibt dein Kind auch nach der Fremdelphase zurückhaltend und vorsichtig, ist es vielleicht tatsächlich schüchtern. Dann solltest du trotzdem viele soziale Situationen aufsuchen und angehen, aber behutsam.

Zusammen unterwegs: Spielgruppen & Co.

Sobald du mit deinem Kind unterwegs bist, wird die Schüchternheit ein Thema. Die typischen Situationen müssen dich aber alle nicht beunruhigen.

Spielgruppen für Eltern und Kinder

Eine Spielgruppe im Babyjahr oder während der Kleinkindzeit hat mehrere Vorteile:

Die Eltern finden Austauschmöglichkeiten, Gleichgesinnte, Unterstützung und Information durch gute Kursleiter*innen. Sie haben Zeit exklusiv für ihr Kind ohne Gedanken an die Spülmaschine oder die Geschwister.

Die Babys und Kleinkinder spüren diese Exklusivzeit, bekommen Spiel- und Bewegungsanregungen, Nähe und Aufmerksamkeit und können nach und nach auch andere Wesen im gleichen Alter bemerken und mit ihnen interagieren.

Spielgruppen sind also relevante Stützen beim Start ins Familienleben. Je nach Zeitpunkt des Kursstartes benötigen manche Babys etwas mehr Zeit zum Ankommen und Wohlfühlen als andere.

So gelingt euch ein guter Start in der Spielgruppe:

Werde nicht nervös, wenn dein Kind Zurückhaltung zeigt, und gib den Kurs nicht zu leichtfertig auf! Er ist auch wichtig für dich als begleitender Elternteil.

Gib dem Kind Zeit und Nähe: Es kann auch am Rand oder auf deinem Schoß sitzend viel mitnehmen und sich beteiligen (und du auch).

Schau auf dein Kind und versuch, die Bemerkungen von anderen zu ignorieren. Sie kennen euch nicht gut, sie können die Lage nicht beurteilen!

Erscheint immer möglichst früh zum Kurs, damit ihr nicht in einen Raum kommt, der schon voller Menschen ist, sondern die ersten seid.

Gruppenleiter*innen und andere Eltern solltest du freundlich, aber bestimmt darüber informieren, dass dein Kind natürlich Interesse an Interaktion hat, aber langsamer ankommen muss als andere und eine engere Begleitung benötigt. Lass dich nicht verunsichern. Du bist der/die Expert*in für dein Kind!

Komm möglichst erst einmal gemeinsam mit dem Kind an und begleite es, anstatt sofort intensiv mit anderen zu reden.

Biete möglichst immer gleiche Abläufe und Utensilien. Für Ersteres sollte eine gute Kursleitung sorgen (z. B. über anfänglich immer gleiche Lieder und Spiele); das Zweite hast du selbst in der Hand, indem du Schnuffeltücher, Spielzeug usw. von zu Hause mitbringst.

Akzeptiere, wenn Schüchternheit oder Fremdeln gelegentlich in ein starkes Unbehagen gipfeln oder das Kind sich absolut überreizt zeigt. Verlasst dann die Situation rechtzeitig (geht vor die Tür oder direkt nach Hause), ohne zu enttäuscht zu sein.

Nimm es an, wenn dein Kind eventuell noch zu jung ist und mehr Zeit braucht, bevor es von einem Spielgruppenangebot profitieren kann. Meldet euch ab und versucht es in zwei, drei Monaten erneut.

Erste Hobbys testen

Schon im Kindergartenalter starten viele mit ersten organisierten Beschäftigungen, die nicht nur Spielgruppen sind, sondern bei denen es um Inhalte geht: Singen, Musizieren, Basteln, Turnen. Die meisten Aktivitäten finden mit Eltern statt, sind aber durch fremde Orte und viele neue Menschen dennoch eine Herausforderung. Teilweise wird auch gewünscht, dass sich die Eltern im Hintergrund halten oder nach einer Kennenlernphase ganz zurückziehen.

So klappt es bei schüchternen Kindern mit dem Hobby:

Verbiegt euch nicht, um ein Hobby zu starten, wenn ein Kurs nur zu einer für euch ungünstigen Zeit möglich ist.

Such eine Aktivität aus, bei der die Teilnehmerzahl nicht zu groß ist – maximal etwa zehn Kinder.

Such einen Kurs aus, der auch räumlich nicht zu herausfordernd ist: lieber ein klar gestalteter, übersichtlicher Raum anstatt einer großen Halle mit vielen Möglichkeiten.

Schau dir im Vorfeld die Gegebenheiten an: Noch bevor der erste Kurstag ansteht, kannst du dir mit deinem Kind das Gebäude anschauen, gucken, wo man parken kann und wo die Toiletten sind. Ihr trefft vielleicht zufällig den/die Kursleiter*in oder könnt in den Raum schauen. Eventuell lassen sich auch im Internet Fotos zu der Veranstaltung finden, sodass deinem Kind klarer ist, was es erwartet.

Ist dein Kind schon drei Jahre oder älter, sprich im Voraus über mögliche unangenehme Situationen: Du kannst zum Beispiel erzählen, was dich gesorgt hat bei deinem ersten Besuch im Chor oder im Fitnesscenter und wie du damit umgegangen bist. Dein Kind kann sich einen Mutmacher mitnehmen. Vielleicht hat es auch selbst Ideen oder Strategien. Wenn du danach fragst, wird es sie noch mal bewusster nutzen können.

Sprich im Vorfeld mit der Kursleitung und mach klar, wie gerne dein Kind dabei sein möchte, aber dass es eine etwas längere Eingewöhnungszeit benötigen könnte. Sag zu, dass du versuchen wirst, dich im Hintergrund zu halten, um die anderen Kursteilnehmer*innen nicht zu stören. Denn das ist meist das Argument gegen eine lange Begleitung durch ein Elternteil.

Seid möglichst als Erste beim Kurs, um in Ruhe ankommen und z. B. einen Platz oder zu nutzende Gegenstände auswählen zu können. Alle, die danach kommen, kann dein Kind Stück für Stück wahrnehmen und sich mit den Veränderungen arrangieren.

Habt wenn möglich immer die gleichen Dinge dabei und plant ein ähnliches Vorgehen. Zum Beispiel immer das gleiche Malerhemd, das ihr gemeinsam anzieht, oder eine Brotdose, die sofort nach Kursende geplündert wird. Solche Abläufe geben Sicherheit, wenn andere Dinge nicht planbar sind.

Nimm es an, wenn dein Kind einmal nicht dableiben möchte oder aber irgendwann klar wird, dass es das Angebot gar nicht wahrnehmen möchte. Nicht sofort aufgeben, noch einmal probieren ist wichtig, aber Durchhaltezwang (beispielsweise nur weil der Kurs bezahlt wurde) tut weder eurer Beziehung zueinander gut noch dem schüchternen Temperament deines Kindes.

Je nach Alter des Kindes und seinen sprachlichen Möglichkeiten kannst du es unterschiedlich gut vorbereiten. Du kannst die Kurssituation spielerisch üben, zum Beispiel mit Figürchen oder Plüschtieren. Bei einem älteren Kind ab drei Jahren ist es durchaus möglich, ins Gespräch zu gehen, Bilder zu ergoogeln oder anhand von Wochenplänen aufzuzeigen, wann welche Unternehmungen anstehen.

Jüngere Kinder solltest du nicht mit Vorhersagen zu weit im Voraus stressen – da reicht morgens ein Bericht: „Heute ist Kindergarten und danach gehen wir wieder zum Turnen; ich bleibe dabei, wenn du möchtest.“ Das Begleiten in der Situation ist dann wichtiger als das Vorbereiten.

Gut vorbereitet für Spielplatz und Schwimmbad

Der Kletterturm reizt, die Rutsche ruft. Das Wellenbad fasziniert, die lustige Kinderdusche lockt. Natürlich willst weder du selbst noch dein Kind immer nur zu Hause hocken oder ständig die gleichen Orte besuchen. Es soll sicher ab und an auch mal etwas Besonderes sein: der große Spielplatz anstatt des Sandlochs neben dem Haus, das Spaßbad anstelle des kleinen Planschbrunnens im Ort.

Es ist gut, wenn du das wagst und dein Kind zu solchen Unternehmungen anstupst. Doch auch hier gilt: gut vorbereiten und vor Ort eng begleiten! Denn sowohl viele Menschen als auch herausfordernde Gerätschaften und natürlich Wasser können stressen und ängstigen.

So gelingt euer Ausflug:

Bereite den Ausflug gut vor: Sprich mit deinem älteren Kind über eure Pläne, überlegt tolle Dinge, die ihr auf jeden Fall machen wollt. Jüngeren Kindern kann es helfen, wenn sie die Sachen mitpacken und bestimmtes Spielzeug auswählen dürfen.

Versucht zu einem Zeitpunkt dorthin zu gehen, an dem es nicht übervoll ist.

Vermeide, dass dein Kind bei der Ankunft müde oder hungrig ist.

Komm mit deinem Kind gemeinsam an. Konzentrier dich darauf, was dein Kind sieht und wahrnimmt. Lass es auf deinem Arm oder nimm es an die Hand, hock dich vielleicht zu ihm hinunter und befasst euch gemeinsam damit, was ihr tun möchtet – mit einer klaren Aufgabe kann man besser ankommen. Das heißt nicht, dass du ununterbrochen danebenstehen musst. Aber sei rufbereit.

Wenn du spürst, dass etwas nicht in Ordnung ist, schenk deinem Kind die Wörter, die es vielleicht selbst nicht finden kann: „Kann es sein, dass es dir zu laut ist? Könnte es sein, dass du zuerst auf meinem Schoß sitzen magst? Möchtest du mit mir zusammen auf den Turm, wo die großen Kinder so viel Spaß haben?“

Achte darauf, dass du deinem Kind immer einen Ausweg anbieten kannst. Es muss sich okay fühlen, wenn es doch wieder einen Rückzieher macht. Du musst es auch unterstützen, falls andere spotten.

Mach nicht zu viel. Aber sprich andere Leute an, wenn sie Dinge sagen oder tun, die dein Kind zusätzlich stressen oder ängstigen. Bleib höflich, aber verbitte dir auch klar wertende Bemerkungen!

Unterstütz dein Kind dabei, selbst ins Gespräch mit anderen zu kommen, wenn es dies allein nicht schafft, und leite den Dialog ein, zum Beispiel mit einem „Oh, dein Eimer ist ja cool. Mein Sohn würde ihn gerne mal kurz ausleihen, glaube ich. Wäre das okay?“ Vielleicht finden die Kinder dann zueinander. Auch mit anderen Erwachsenen ist das möglich, indem du sie wissen lässt, was dein Kind kann oder mag, beispielsweise: „Sie spricht nicht so viel, aber klettert schon seit sie laufen kann wie ein Äffchen, wissen Sie. Magst du es der Dame mal zeigen?“ So kann das Eis brechen.

Gerade beim Thema Schwimmen und Wasser reagieren viele Kinder zögerlich und sogar ängstlich, nicht nur die schüchternen. Das ist ganz natürlich: Wasser ist nicht ungefährlich! Schaff immer wieder die Möglichkeit zur Begegnung mit diesem Element, nutz Hilfsmittel, fordre dein Kind – aber bitte zwing es nicht. Wird ein Kind schreiend und tobend auf dem Arm ins tiefe Wasser getragen, wird es das am Ende selten gut finden. Stattdessen trägt es langfristig das Gefühl der Ohnmacht in sich und verbindet dies mit dem Wasser.

Ihr braucht Zeit, damit sich Vertrauen und auch Neugier aufbauen können – wie bei jeder „Eingewöhnung“, egal ob Kita, neues Hobby, frisch entdeckte Kletterbäume oder auch das Fahrradfahren.

Sprich vielleicht im Schwimmbad das Personal an, ob es eine gute Idee und schon Erfahrungen hat, wie man einem zögerlichen Kind den Umgang mit dem Wasser erleichtern kann, und absolviert möglichst gemeinsam einen Wassergewöhnungskurs. Auch dies sollte immer ohne Druck geschehen: Schüchterne Kinder sind manchmal erst im Grundschulalter dazu bereit, in ein Nichtschwimmerbecken zu steigen, und lassen sich davor nur auf Planschtiefen ein.

Unternehmungen und Übergänge gestalten

Auch ohne organisierte Hobbys oder klare Ausflugsziele können Ortswechsel und das Wagen von etwas Neuem schwierig sein. Oft fängt es schon daheim an, dass das schüchterne oder ängstliche Kind gar nicht starten mag. Damit ist es nicht allein. Denn Ortswechsel und Übergänge mögen Kinder in dem Alter nicht und können sie auch selten ohne jede Hilfestellung meistern, ganz unabhängig vom Temperament. Sie wissen nicht, was sie am anderen Ort erwartet, warum sie gerade jetzt hier weg sollen, wieso sie ihr Spiel unterbrechen müssen. Ihr Plan im Kopf sieht anders aus als deiner.

RITUALE GEBEN RUHE

Das ist wie mit dem Lesen und Singen: Immer möglichst die gleichen Bücher, die gleichen Lieder, die uns Großen schon auf den Geist gehen, geben den Kleinen Sicherheit. Rituale, Gewohnheiten, relativ gut Bescheid wissen, was passieren wird, gibt schüchternen Kindern einen Rahmen, an dem sie sich „festhalten“ können. Das heißt, sie brauchen nicht nur in den herausfordernden Momenten möglichst viel Bekanntes, sondern in ihrem gesamten Alltag, um von Grund auf entspannter zu sein.

Dieser alterstypischen Problematik, die bei deinem schüchternen Kind vermutlich verstärkt auftritt, kannst du am besten so begegnen:

Hab Geduld, starte möglichst gelassen!

Zeig Verständnis dafür, dass ein Wechsel für ein sensibles Kind wie deines auf vielfältige Art herausfordernd sein kann. Denn es ändert sich nicht nur der Ort, sondern unter Umständen auch die anwesenden Personen, die Gerüche, die Abläufe, die Temperatur, die Lautstärke, die Kleidung … Wir sind das gewohnt, aber ein empfindliches, schüchternes Kind braucht seine Zeit.

Versuch aber auch, der „Leitwolf“ zu sein, wenn ihr keine Wahl habt. Dann stups dein Kind zu seinem Glück.

Übergib ihm Aufgaben für den Ort, zu dem es geht, um seinen Fokus darauf zu lenken und beide Orte miteinander zu verknüpfen. Lass dein Kind aktiv werden!

Lass es stets nur zwischen zwei Dingen wählen. Schirm oder Tasche? Teddybär oder Buch? Dann hat dein Kind etwas zu tun, „flüchtet“ sich aber nicht in themenfremde Diskussionen und Handlungen.

Humor kann wunderbar helfen: Was würde passieren, wenn du dich mal von deinem Kind anziehen ließest und ihr dabei richtig Quatsch machen würdet? Wenn es mit einem Lineal nachmessen muss, wie hoch es den Reißverschluss an der Jacke schließen soll? Wenn du dir lustige Ausdrücke dafür überlegst, wie fest der Schuh geschnürt ist? „So zerquetscht er nicht mal eine weiche Banane, so sogar eine harte Birne.“ Lachen verbindet. Überleg einfach, wie du die schon im Vorfeld „bedrohlichen“ Übergangssituationen lustig gestalten kannst, so dass Ängste keine Chance haben.

Schaut gemeinsam Fotos des Zielortes an.

Fahrt möglichst immer wieder an gleiche Orte (bei Ausflügen und auch Urlauben), denn Bekanntes gibt Sicherheit. Statt im Großen zu wechseln, kann man dann lieber dort vor Ort versuchen, den Radius zu erweitern. Für das schüchterne Kind ist die Ankunft immer neu, aber doch bekannt, und das kommt ihm sehr entgegen.

Nach der Ankunft am neuen Ort solltest du dir gleich Zeit für dein Kind nehmen. Sofortiges Tun, Hektik und viele Menschen sind für ein gutes Einfühlen des Kindes in den neuen Ort nicht hilfreich.

Gleiches gilt auch für das Heimkommen, das ja auch einen Übergang darstellt: Selbst wenn du „nur schnell“ zwei, drei Handgriffe im Haushalt machen müsstest, ist das für ein schüchternes, ängstliches Kind unter sechs Jahren unter Umständen zu viel, obwohl es sein Zuhause ja kennt. Jacken aus, mit ihm gemeinsam ankommen, kuscheln, sich in etwas vertiefen – und dann kann man sich als Elternteil langsam herausziehen, um andere Dinge tun zu.

Oft hilft es, etwas Vertrautes mitzunehmen. Manchmal reicht das gerade verwendete Spielzeug, vielleicht muss es aber auch das geliebte Kopfkissen sein. Kann dein Kind von der Situation, die sich gerade so gut und sicher anfühlt, ein Foto mit deinem Handy machen und sie so mitnehmen und nochmal ansehen? Kann eine Person, die eigentlich nicht mit euch weggehen will, zumindest mit aus dem Haus kommen, um diesen Gang zu vereinfachen? Könnt ihr das laufende Hörspiel mitnehmen? Oder die bequemen Hausschuhe einfach ein Stück anbehalten?

Unter Umständen kann hinter einer Übergangsproblematik aber auch eine tiefere Ursache stecken. Vielleicht hat das Kind nicht nur alterstypisch ein Problem mit dem Wechseln, und vielleicht rührt das Drama auch nicht daher, dass es eben besonders schüchtern ist und somit Angst vor dem anderen/Neuen hat, sondern es gibt einen speziellen Auslöser. Hör also genau hin, was dein Kind beschäftigt und was eventuell in naher Vergangenheit vorgefallen ist. Gab es einen Einbruch im Haus eines befreundeten Kindes, wurden ihm im Kindergarten seine Basteleien geklaut und kaputtgemacht, hat es im Radio mitangehört, dass ein schlimmer Sturm bevorsteht? Versuch herauszufinden, ob es da etwas gibt, das dein Kind hemmt, damit ihr darüber reden und etwas dagegen tun könnt.

Übergangssituationen ab und an zu vermeiden, ist auch okay. Man muss weder sich noch dem Kind jeden Tag mehrfach so einen Stress antun, wenn es auch anders geht. Das schüchterne Kind muss nicht täglich lernen, seine Gefühle in den Griff zu bekommen und über seinen Schatten zu springen. Natürlich müssen wir Übergänge und andere Herausforderungen einem Kind manchmal „antun“, doch dann sind es unumgängliche Lernsituationen, die wir möglichst gut vorbereitet haben und eng begleiten. Dank dieser kann es sich nach und nach aneignen, mit solchem Stress allein gut umzugehen.

Reisen richtig planen

Auch Urlaubsreisen gehören zu den schwierigen Situationen für schüchterne oder ängstliche Kinder.

Für ein oder zwei Wochen soll das Kind sein gewohntes Zuhause verlassen, ein Zeitraum, der im Vorschulalter noch schwer vorstellbar ist. Es kann nur wenige gewohnte Dinge mitnehmen und ist nicht sicher, wo genau es hingeht. Schon für Erwachsene ist das manchmal noch aufregend und mit Nervosität verbunden – für einen kleinen, eher schüchternen Menschen dann erst recht.

Autor

  • Inke Hummel (Autor:in)

Inke Hummel ist Pädagogin und Inhaberin der Familienbegleitung „sAchtsam Hummel“, Leiterin für ElternKindKurse und Bloggerin. Als pädagogischer Coach unterstützt sie Familien vom ersten Babyjahr bis zur Pubertät. Besonders häufig begleitet sie Eltern mit gefühlsstarken Kindern und verhilft ihnen zu einer gelingenden ElternKindBindung. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagogen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Inke Hummel ist verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter.
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Titel: Mein wunderbares schüchternes Kind