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Gewaltprävention in Pflege und Betreuung

Gefahren erkennen, konsequent handeln und deeskalieren. Mit dem Schutzkonzept für Ihre Mitarbeiter*innen

von Thomas Hecker (Herausgeber:in) Stefan Freck (Herausgeber:in) Peer Friedenberg (Autor:in) Michael Jung-Lübke (Herausgeber:in)
252 Seiten

Zusammenfassung

Pflege und Betreuungsmaßnahmen, die gegen den Willen des Pflegebedürftigen geschehen? Für jede dritte Pflegekraft leider eine alltägliche Erfahrung. Da wird beleidigt, eingeschüchtert oder gedroht. Selbst körperliche Gewalt, Vernachlässigung und Freiheitsentzug kommen vor.
Wie können Einrichtungen diese Gewaltereignisse verhindern? Wie können sie ihre Mitarbeiter und Kunden vor Gewalt schützen? Die Autoren dieses Buches geben Auskunft in Sachen „Gewaltprävention“: Sie definieren Begriffe, stellen anhand von Fallbeispielen konkrete Situationen und Handlungsmöglichkeiten vor und geben einen Einblick in die Gewaltfreie Kommunikation.
Das große Plus: ein Schutzkonzept für Mitarbeitende, mit dem jede Führungskraft die Gewaltprävention im Alltag der Pflege und Betreuung nachhaltig installieren kann.
Pflege- und Betreuungskräfte erhalten hier die nötige Kompetenz, um die Gewaltprävention im Alltag umzusetzen, statt weiterhin hilflos Situationen ausgeliefert zu sein, in denen sie Gewalt erleben oder (oft unbewusst) selbst anwenden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Wenn es zu Gewaltereignissen kommt, stehen wir vor Fragwürdigkeit und Fraglosigkeit. Mehr noch im beruflichen Rahmen und obendrein in helfenden Berufen. Gewalt in helfenden Berufen? Ja. Täglich. Auch mehrfach.

Dieses Buch begann mit der übereinstimmenden Feststellung von vier Menschen: Wenn wir unsere speziellen Berufserfahrungen rund um das Themenfeld »Gewaltprävention« miteinander verbinden, entsteht eine Fülle an Wissen, Fertigkeiten, Kenntnissen und Erkenntnissen, die auf ihre Art für die Fachöffentlichkeit neu sein würden.

Wir vier Autoren (Psychologe, Krankenpfleger, Altenpfleger, Diplompädagoge und Erzieher) arbeiten seit vielen Jahren in verschiedenen Konstellationen der Gewaltprävention. Unsere Verbindung gründet auf dem Konzept »piag-B«1 – »Prävention und Intervention gegen Aggression und Gewalt in Betreuungsberufen«. Für dieses Buch haben wir unsere beruflichen Erfahrungen aus der Praxis im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, aus Beratung, Begleitung und Schulung von Mitarbeitenden und Betrieben zusammengestellt und miteinander in Beziehung gesetzt.

Definition Gewaltprävention

Gewaltprävention umfasst

die Vorbeugung von Gewaltereignissen,

das Verhalten in einem solchen Vorfall und

die Nachsorge.

Damit beinhaltet die Gewaltprävention Vorsorge, Intervention und Deeskalation. Sie legt Wert auf Sprach- und Verhaltensbewusstsein, hinterfragt Haltungen, Konzepte und Glaubenssysteme und regt gleichzeitig an, dahinter zu schauen.

Gewaltprävention ist wertorientiert. Sie will Schaden an Menschen abwenden, bietet Reflexion an und reicht gleichzeitig die Werkzeuge dazu. Sie stoppt nie vor dem Selbstverständlichen, sondern will wissen, was daran so selbstverständlich ist. Dabei richtet sie sich an Mitarbeitende, Führungskräfte und die Institution selbst. Sie sorgt dafür, dass sich die agierenden Personen auf rechtssicherem Grund bewegen.

Gewaltprävention lebt untrennbar von der Führungskultur in einem Betrieb. Wer hilft, vor Gewalt zu schützen, schafft eine Atmosphäre der Offenheit und die Kompetenz, mit dieser Offenheit professionell umzugehen.

Ein solches Gewaltschutzkonzept reicht in und unter alle Strukturen des Betriebes hinein. Strukturen und Handlungen richten sich schrittweise selbstverständlich im Sinne der Gewaltprävention aus. Das reicht von den Begegnungen zwischen Helfenden und Anvertrauten über bauliche Entscheidungen bis zur Art und Weise, wie Audits durchgeführt und Jahresziele bestimmt werden.

Wir konnten für dieses Buch aus dem Vollen schöpfen: aus der Verknüpfung von Berufs- und Tätigkeitsfeldern der Alten- und Krankenpflege, der Psychiatrie, der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, der Jugendhilfe, Pädagogik, Betreuung, Beratung, Psychologie und Supervision, dem Qualitätsmanagement, der Arbeitssicherheit, der Aus- und Fortbildung sowie Autorentätigkeit. Rechtsberatung erhielten wir dankenswerterweise von Rechtsanwalt Christian Rottmann.

Die Lektüre dieses Buchs wird Sie mit unterschiedlichen Facetten des professionellen Umgangs mit Aggression und Gewalt vertraut machen:

Individuell auf der Ebene von Intervention, Reflexion und Kommunikation. Hier zeigen wir Instrumente und Strategien für die konkrete Vorbeugung sowie den Umgang während und nach Gewaltereignissen.

Organisatorisch auf den Ebenen des innerbetrieblichen Gewaltschutzkonzepts, des Qualitätsmanagements, bereits vorhandenen Bestandteilen des Pflegekonzepts und der Mitarbeiter*innenführung.

Wir wünschen Ihnen viele Erkenntnisse beim Lesen, Spaß beim Entdecken, Humor und Mut zur Selbstreflexion und Lust auf die Umsetzung von Gewaltprävention.

Voerde, Bremen und Bochum im April 2021,

Thomas Hecker, Michael Jung-Lübke, Stefan Freck, Peer Friedenberg

_______________

1Das Konzept piag-B hat sich seit 1998 stets weiterentwickelt und ist mit den Anforderungen der Zeit anhand der Erfahrungen im Umgang mit verschiedensten Arbeitsbereichen stets kontinuierlich gewachsen. Aufgrund der Vielschichtigkeit innerbetrieblicher Gewaltprävention beinhaltet der systemische Ansatz des Konzeptes eine ganzheitlich- umfassende Betrachtung und Bearbeitung präventiver Arbeit. In komplexen Systemen, wie eben auch sozialen Einrichtungen, kooperieren viele verschiedene Arbeitsbereiche miteinander. Einzelne Mitarbeitende sehen sich dabei zwar unterschiedlichen Anforderungen gegenüber, die Auseinandersetzung mit etwaiger Gewalt und Aggression bedeutet jedoch eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Alle am Prozess Beteiligten, Mitarbeiterinnen und Klientinnen, sollen möglichst von einer abgestimmten Vorgehensweise partizipieren.

Einleitung

Stefan Freck

Liebe Leserinnen, lieber Leser, wir wollen mit Ihnen einen Weg gehen, auf dem wir Sie ermutigen, anders zu denken, neu zu denken, viel zu denken und das Thema »Prävention von Gewalt« in sozialen, betreuenden, pflegerischen Berufen als ganzheitliches Konzept zu beleuchten. Wir zeigen Ihnen, wie Sie den ganzheitlichen Schutz vor Gewalt, sexuellen Übergriffen und Aggression in Einrichtungen mit anvertrauten Menschen erreichen, und zwar auf zweierlei Wegen:

1. Schutz von Mitarbeitenden vor Gewalt und Übergriffen – durch das Vermitteln von Kompetenz und Fachexpertise.

2. Schutz von anvertrauten Menschen – durch das Erstellen eines aktiven, fluiden Maßnahmenpaketes.

Gewaltprozesse in sozialen, betreuenden oder helfenden Einrichtungen haben immer etwas mit den Strukturen einer Institution, den fachlich Handelnden und den anvertrauten Menschen zu tun. Und, nicht zu vergessen, mit den Entscheidern und Verantwortlichen.

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Gewaltschutz ist Führungsaufgabe!

Deshalb vermitteln wir Ihnen mit diesem Buch die Grundidee eines ganzheitlichen Schutzkonzeptes zur Prävention von Gewalt: das ganzheitlich-innerbetriebliche Gewaltschutzkonzept.

Das ganzheitlich-innerbetriebliche Gewaltschutzkonzept sorgt dafür, die Gewalt in der Einrichtung zu minimieren. Dafür ist ein Zusammenspiel von verschiedenen Maßnahmenpaketen, die von den Mitarbeitenden umgesetzt werden können, nötig. Wichtige Bausteine der Maßnahmenpakete:

die Prävention vor und Deeskalation von Gewalt im Unternehmen und

die Schaffung von Strukturen im Umgang mit Gewalt und Aggression.

Explizit werden wir in einem Kapitel auch sexualisierte Gewalt thematisieren, insbesondere die sexuelle Gewalt an zu Pflegenden, zu Betreuenden und anderen anvertrauten Menschen, die in der Vergangenheit besonders tabuisiert wurde. Sexualisierte Gewalt wird in mancher Pflege- und Hilfseinrichtung immer noch ungern zum Thema gemacht und ist für Mitarbeitende wenig besprechbar.

Letztlich sorgt gute Gewaltprävention dafür, dass Sie durch Wissen, Kompetenz, Handlungs- und Sprachfähigkeit in der Lage sind, einen guten Job zu machen, die Anvertrauten vor Gewalt zu schützen – und dass Ihre Institution den Rahmen dafür setzt, dass ihre Mitarbeiter*innen mit Gewalt und Aggression professionell umgehen.

Jeder Mensch, sei es in der Pflege, einer Wohngruppe oder einem Betreuungsdienst, hat ein Anrecht darauf, vor Gewalt, Aggression und sexualisierter Gewalt geschützt zu sein. Er hat ein Anrecht darauf, über Erlebnisse, Aggressionen und (sexuelle) Übergriffe sprechen zu können. Ein Anrecht auf fachlich qualifiziertes Personal und eine sensible Organisation, die professionell mit Gewaltprozessen umgehen können, ihn ernst nehmen und entsprechend behandeln. Anvertraute und deren Angehörige haben ein Anrecht darauf,

den Umgang mit ihnen offen in Frage stellen zu dürfen,

auf sensibel handelndes Personal oder Kollegen zu treffen,

niederschwellige Hilfsmöglichkeiten vorzufinden.

Daher ist eine verstärkte Hinwendung zu Gewaltprävention, insbesondere der Prävention sexualisierter Gewalt, zwingend erforderlich. Sie findet in der Regel weder ausreichend Beachtung in Aus- und Fortbildung noch in der Reflexion von Arbeitssituationen.

1.1Ganzheitlich-innerbetrieblicher Gewaltschutz

Nur die Institution als Ganze ist in der Lage, mit dem umzugehen, was in ihren Räumen und Abläufen sowie mit den in ihr befindlichen Menschen passiert.

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Info

Das Ziel eines ganzheitlichen institutionellen Gewaltschutzes ist, dass möglichst alle Beteiligten in den Einrichtungen über größtmöglichen Schutz vor Gewalt verfügen und es gar nicht erst zu relevanten Übergriffen kommt. Die Prävention von und der Umgang mit Gewalt im Unternehmen wird somit zu einem selbstverständlichen Teil des professionellen Alltags.

Der Begriff »ganzheitlich-innerbetriebliches Gewaltschutzkonzept« macht deutlich, worum es geht: Ein Konzept innerhalb der Institution eines Trägers, das konkrete Maßnahmen zum Schutz vor Gewaltprozessen beschreibt, von denen sowohl Mitarbeitende als auch Klient*innen betroffen sein können.

Im Bereich der Träger von Kinder- und Jugendhilfe sind Gewaltschutzkonzepte zu einem selbstverständlichen Teil alltäglicher Standards geworden. Bei diesen Trägern hat sich auch spürbar etwas verändert: Mitarbeitende fühlen sich viel besser in der Lage, mit möglichen Gewaltvorfällen und Aggression umzugehen, die Anvertrauten vor Übergriffen zu schützen und sich selbst professionell zu verhalten, wenn sie Ziel von aggressivem Verhalten sind.

Jeder Träger steht in der Pflicht, dafür einzustehen, dass sowohl Mitarbeitende als auch im Besonderen die Anvertrauten vor Schäden durch Gewalt geschützt werden. Diese gesetzlich definierte Garantenpflicht sollte aus unserer Sicht grundlegend für die Institution sein.

Ein ganzheitlich-innerbetriebliches Gewaltschutzkonzept sorgt dafür, dass alle Bemühungen des Trägers und seiner Mitarbeitenden in handhabbare, funktionierende Maßnahmenpakete zum Schutz vor Gewalt fließen. Die notwendigen Bausteine bauen auf den Mangelfaktoren und Ursachen von innerbetrieblicher Gewalt auf und operationalisieren dadurch konkrete Schutzmaßnahmen in den Einrichtungen:

Ein ganzheitlich-innerbetriebliches Gewaltschutzkonzept standardisiert Vorgehensweisen, konkretisiert den Umgang mit Aggression und Gewalt sowie deren Vermeidung. Es sorgt für Sprachfähigkeit bei allen Beteiligten, weist Verantwortung und personelle Zuständigkeiten für das Thema im Unternehmen zu und ermöglicht die Handlungsfähigkeit aller.

Ein ganzheitlich-innerbetriebliches Gewaltschutzkonzept wird selbstverständlicher Teil in den Strukturen des Unternehmens und seines qualitativen Handelns – unabhängig von einzelnen, wohlgesonnenen Personen oder besonders für das Thema sensibilisierten Strukturen. Es gehört einfach dazu, unabhängig davon, wer sich gerade im Unternehmen befindet.

Dabei entsteht ein hoher Nutzen für die Einrichtung und das soziale Unternehmen:

Klient*innenschutz: Anvertraute Menschen erhalten Schutz vor Gewalt und Aggression.

Mitarbeiter*innenschutz: Mitarbeitende erhalten Sicherheit im Umgang mit Gewaltprozessen.

Transparente Informationen, Verhaltensweisen und Beschwerdewege sorgen für verbesserte Handlungssicherheit aller Beteiligten.

Positiver Kulturwandel in der Einrichtung.

Prävention von Gewalt an Anvertrauten und Mitarbeitenden – Vermeidung von zivil-, straf- und arbeitsrechtlichen Folgen oder auch Personalausfall.

Prävention wirkt auch nach außen als wichtiges Qualitätsmerkmal – Stärkung des eigenen Images der Einrichtung.

2.1»Jeder hat das Recht auf Unversehrtheit«

Thomas Hecker, Michael Jung-Lübke, Stefan Freck, Peer Friedenberg

Was sagt eigentlich das Gesetz, wenn es um Gewalt in der Pflege geht? Wir sprachen mit Rechtsanwalt Christian Rottmann über wesentliche Rechtsfragen, die in der Gewaltprävention von Bedeutung sind.

Herr Rottmann, darf ich mich im Arbeitsbereich wehren? Oder muss ich dort den ein oder anderen Angriff ertragen?

Selbstverständlich ist Ihre körperliche Unversehrtheit auch am Arbeitsplatz geschützt, d. h. Sie müssen nicht zulassen, verletzt zu werden.

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Art. 2 GG: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Es könnte ja passieren, dass ich Bewohner*innen verletze, weil ich mich zur Wehr gesetzt habe? Beispielsweise wenn ich angegriffen werde.

Grundsätzlich ist in jeder Konfliktsituation zu prüfen, ob ein Verhalten strafrechtlich relevant ist. Es wird geprüft, ob ein Tatbestand erfüllt ist, ob das Verhalten rechtswidrig war und ob Rechtfertigungsgründe vorgelegen haben. Die Tat muss durch Notwehr geboten sein. Da sagt uns das Strafgesetzbuch: »Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.« Notwehr und Nothilfe sind gleichrangig. Daher ist es zunächst nicht von Relevanz, ob sich eine Person verteidigt oder einer anderen Person zur Hilfe kommt. Z. B. kommt ein Pfleger einer Bewohnerin zur Hilfe, die von einem anderen Bewohner gewürgt wird. Der Pfleger fasst den Bewohner an den Oberarmen und zieht ihn von der Frau weg. Dabei entstehen bei dem Mann Hämatome an den Oberarmen. Wichtig ist dabei aber auch, dass die Notwehr ihre Grenzen hat.

Ich spreche von Provozierter Notwehr. Zu vermeiden sind Provokationen, die eine Notwehrsituation erforderlich machen würden. Stellen Sie sich z. B. vor, eine schutzbedürftige Person droht Ihnen mit Schlägen. Sie dürfen nicht provozieren, indem Sie sagen: »Versuch es doch! Komm, schlag zu!« In einem solchen Fall kann es dazu kommen, dass diese Eskalation zu einer anderen Beurteilung führt. Eine Notwehrlage kann nicht unterstellt werden, wenn eine schutzbedürftige Person in dieser Weise aufgefordert wird, gewalttätig zu werden.

Wie verstehe ich den Begriff »schutzbedürftige Person« in diesem Zusammenhang?

Gemeint sind Menschen mit Einschränkungen oder auch Kinder. Hier ist Schutzwehr geboten und nicht Trutzwehr. Als Schutzwehr sind eher passive Handlungen anzusehen, wie bspw. Aufforderung und schützende Haltungen. Dahingegen umfasst Trutzwehr aktive Handlungen. Dieses könnte das Wegschubsen einer angreifenden Person sein.

Was ist als Verteidigung anzusehen?

Der Verteidigungswille muss unterstellbar sein. Die Verteidigungshandlung muss erforderlich sein und mit der Absicht erfolgen, sich gegen einen Angriff verteidigen zu wollen. Erfolgt ein Gegenangriff, um den Angreifer zu bestrafen, kann Notwehr nicht als Rechtfertigung herangezogen werden.

Und was bedeutet die Erforderlichkeit?

Das mildeste, zur Verfügung stehende Mittel muss gewählt werden. In dem zuvor genannten Beispiel durfte der Pfleger den würgenden Bewohner sehr wohl an den Oberarmen wegziehen, auch wenn er dabei die Verletzung, nämlich die Hämatome, in Kauf nahm. Nicht gerechtfertigt wäre beispielweise, den Angreifer mit einer Flasche niederzuschlagen, um ihn außer Gefecht zu setzen.

Wäre dies dann also ein rechtswidriger Angriff?

Nein, hier handelt es sich um eine Überschreitung der Grenzen der Notwehr. Rechtswidrige Angriffe sind alle diejenigen, für welche es keine Rechtfertigung gibt. Das heißt, dass unser Gesetz regelt, welche Gegebenheiten als Rechtfertigungsgrund angesehen werden. Das sind bspw. auch Handlungen der Notwehr und der Nothilfe. Ein Polizist, der einen flüchtenden Ladendieb unter Anwendung von Gewalt ergreift, handelt nicht rechtswidrig. Die Ohrfeige von einer Bewohnerin gegen einen Pfleger ist zunächst als rechtswidrig anzusehen.

Was ist genau mit dem Begriff »gegenwärtig« gemeint?

»Gegenwärtig« meint, dass die Handlung sich auf die unmittelbare Gefahr bezieht. Folglich ein Angriff, der gerade stattfindet, noch fortdauert oder unmittelbar bevorsteht.

Hin und wieder hört man von einer sogenannten »Drei-Sekunden-Regel«, bei welcher man drei Sekunden Zeit habe, zurückzuschlagen. Eine solche Regel gibt es nicht.

Der Reflex ist dem Menschen von der Natur gegeben, um unwillkürlich und ohne Zeitverlust auf einen Sinnesreiz zu reagieren – nicht nach drei Sekunden.

Was ist unter »Überschreitung der Notwehr« zu verstehen? Es könnten Situationen entstehen, in denen die angegriffene Person in Panik gerät und nicht »Herr ihrer Sinne« ist. Was dann?

§ 33 StGB sagt uns: Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft. Auch Unfälle oder versehentliche Handlungen werden anders bewertet.

In unserem Beispiel war dem nicht so. Der Pfleger wusste genau, was er tat.

Das ist richtig. Die Abwehr war bewusst und willentlich, auch wenn eine Intention der Verletzung nicht vorhanden war. Von daher ist man schnell geneigt, keinen Vorsatz zu sehen. Jedoch unterscheidet man juristisch drei Formen des Vorsatzes:

1. Ich will, dass es passiert.

2. Ich will es nicht, aber weiß, dass es passiert.

3. Ich weiß es nicht, ich will es nicht, aber ich nehme es billigend in Kauf. Das wäre der bedingte Vorsatz.

Zumindest der bedingte Vorsatz kann bei einer willentlichen Handlung unterstellt werden.

In dem Beispiel lag die Tatbestandsmäßigkeit der Körperverletzung nach § 223 des Strafgesetzbuchs vor. Der Pfleger hat dem Bewohner die Hämatome zugefügt. Er handelte schuldhaft, denn er nahm die Verletzung billigend in Kauf. Allerdings hatte er einen Rechtfertigungsgrund, denn um die Bewohnerin aus dem Würgegriff zu befreien, nutzte er das erforderliche Mittel, diesen gegenwärtigen – und rechtswidrigen – Angriff von ihr abzuwenden.

Aus diesem Grunde ist es auch so wichtig, die Beweislage schnell und klar zu sichern. Der Pfleger sollte, nachdem sich alles beruhigt hat, die Geschehnisse entsprechend dokumentieren.

Da scheint immer das Wichtigste zu sein, das Dokumentieren.

Stellen Sie sich vor, der Bewohner, der hier als »Täter« aktiv war, erhält Besuch von Angehörigen und es wird ihm geraten, wegen der übertriebenen Reaktion Strafanzeige gegen den Pfleger zu erstatten.

Wenn der Pfleger also rechtzeitig dokumentiert hat, entlastet er sich?

Die Dokumentation des Geschehens und die Information der Vorgesetzten sollten unmittelbar erfolgen. In diesem Zusammenhang können auch Zeugen benannt werden, soweit sie zum Ablauf etwas beitragen können.

3 Gewalt und Aggression

Michael Jung-Lübke

Jeder, der Gewalt und Aggression in der Betreuung von Personen minimieren will oder in gewalttätigen Situationen deeskalierend eingreifen möchte, sollte sich bewusst sein, was Aggression und Gewalt eigentlich sind, wo Ursachen liegen können, woran entstehende Gewalt zu erkennen ist, auf welchem Niveau der Aggression sich jemand befindet und wie in dieser Situation interveniert werden kann.

3.1Aus der Praxis: Herr Lück und die »zeitweise Enthemmung«

Herr Lück, 58 Jahre, wohnte bisher in einer Wohngruppe für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Seit sich seine Pflegebedürftigkeit erhöht, kommt es immer mal wieder zu Vorfällen gegenüber Mitbewohner*innen. Der zuständige Sozialarbeiter und die Regionalleitung verschiedener Wohnprojekte suchen gemeinsam mit der Betreuerin dringend nach einer neuen Unterbringungsmöglichkeit für Herrn Lück. Fündig werden sie bei einer Senioreneinrichtung, die eine Wohngruppe für jüngere Menschen mit psychischen Erkrankungen anbietet. Ein Platz wurde vor kurzem frei.

Die Wohnbereichsleitung liest im Überleitungsbogen Formulierungen wie »zeitweise Enthemmung« und »Aggressionspotenzial«. Das hatte offenbar niemand zuvor registriert, jedenfalls ist es ihr nicht bekannt. Sie weiß ihre Mitarbeiter*innen geschult und bisher hat die Integration neuer Bewohner*innen in dieser Gruppe gut funktioniert, gleichwohl möchte sie sich näher informieren. Im Anschluss an das Einzugsgespräch fragt sie bei der Betreuerin doch noch mal nach.

Die Betreuerin berichtet: »Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass es in der Wohngruppe in unregelmäßigen Abständen zu aggressiven Auseinandersetzungen gekommen ist. Herr Lück ist manchmal sehr impulsiv. Er glaubt dann, seine Probleme nur mit Gewalt lösen zu können. Zuletzt ist es häufiger der Fall gewesen, dass er andere laut anschrie. Er war bei geringsten Anlässen rasend vor Wut. Es ist sogar zwei Mal vorgekommen, dass er Mitbewohner geschlagen hat. Unlängst schlug er sogar einem Mitbewohner die Lippe blutig, weil dieser ihn anrempelte.

Andererseits zieht er sich mehrere Tage in sein Zimmer zurück, aber unvermittelt passiert dann doch irgendetwas, womit niemand gerechnet hätte. So hat er z. B. einer Mitbewohnerin unlängst eine Tasse Kaffee über das Kleid gegossen, weil diese ihm am Morgen gesagt hatte, er solle die Musik leiser machen. Stress in der Gruppe gab es auch, wenn es um die Einhaltung von Regeln ging, z. B. die Zuständigkeiten beim Aufräumen oder das pünktliche Erscheinen zum Abendessen. Das war drei Jahre zuvor nie ein Problem für ihn.

Andererseits zeigt Herr Lück auch positive Seiten: Letzte Woche wurde eine Kollegin von einem anderen Mitbewohner in die Ecke gedrängt. Herr Lück sah das und ging sofort dazwischen – man kann hier gewissermaßen von Notwehr sprechen. Allerdings reagierte Herr Lück absolut übermotiviert, denn er schlug dem anderen auf die Nase. Es kam in der Folge zu einer Anzeige wegen Körperverletzung und Stress mit den Angehörigen des anderen Bewohners. Wir konnten das alles nicht mehr dulden.

Im Grunde ist es durchaus biografisch erklärbar, dass Herr Lück sich so verhält, wenn man bedenkt, was er für ein Elternhaus hatte. Bei ihm war Prügel an der Tagesordnung. Sein Vater war auch schon für Monate wegen schwerer Körperverletzung inhaftiert. Herr Lück wird sich wohl einiges von seinen Eltern abgeguckt haben. In einer Situation kam es zu erpresserischem Verhalten, sodass er Schläge androhte, als er von einem anderen Bewohner Geld haben wollte. In der Gruppe hat fast jeder ein gewisses Maß an Angst vor ihm.«

Die Betreuerin stellt der Wohnbereichsleitung eine Auflistung verschiedener Faktoren und Gesichtspunkten zur Verfügung, die sie mit der Aggression von Herrn Lück verbindet:

Emotional: Herr Lück zeigt Zustände von ungehemmter und rasender Wut.

Handlung gegen Personen: Herr Lück schlägt zu.

Handlung gegen Gegenstände: Herr Lück beschmutzt Kleidungsstücke.

Persönliche Einstellung: Herr Lück ist davon überzeugt, Probleme mit Gewalt lösen zu können.

Qualitativ: Eine blutige Lippe des Mitbewohners.

Quantitativ: Gehäuftes Zuschlagen in der Gruppe.

Auslöser: Stress bei der Aufforderung zur Einhaltung von Regeln.

Grundlage für sein Verhalten: Herr Lück hat es von seinen Eltern gelernt.

Verhalten negativ gewertet: Verhalten ist nicht mehr zu dulden.

Verhalten positiv gewertet: Herr Lück verteidigte eine Mitbewohnerin, die belästigt wurde.

Aktives (instrumentalisiertes) Verhalten: Androhen von Schlägen, um etwas zu erlangen.

Reaktives Verhalten: Schlug zu, nachdem er angerempelt wurde.

Passives Verhalten: Rückzug über mehrere Tage.

Rechtlich: Herr Lück handelte möglicherweise aus Notwehr. Es kam zu einer Anzeige.

Unklar bleibt, ob die Wohnbereichsleitung grundsätzlich das gleiche Verständnis bezüglich der Aggression gehabt hätte. Hätte es die Nachfrage und den darauffolgenden Austausch über Herrn Lücks Aggressivität nicht gegeben, wären Missverständnisse wahrscheinlich gewesen. Alle von der Betreuerin vermerkten Facetten werden im Folgenden zu erörtern sein.

3.2Aggression

Definition Aggression

Der Begriff Aggression hat seinen Ursprung im lateinischen Wort aggredi, was so viel wie »herangehen« bedeutet. Somit wäre jegliches menschliche Agieren eine Art von Aggression. Denken Sie nur an die bekannte Redewendung »Eine Aufgabe in Angriff nehmen«.

Ernst Fürntratt versteht unter aggressiven Verhaltensweisen solche, die Individuen oder Sachen aktiv und zielgerichtet schädigen, sie schwächen oder in Angst versetzen.2

Demzufolge ist auch das Androhen von Schlägen oder Verletzungen, welches mit dem Ziel verbunden ist, eine Person in Angst zu versetzen, eine Form von aggressivem Verhalten.

Definition Aggressive Verhaltensweisen

Im Modell piag-B verstehen wir aggressive Verhaltensweisen als zielgerichtete und beabsichtigte Handlungen, welche die Intention haben, eine oder mehrere Personen zu beeinträchtigen, sei es auf physischer, emotionaler oder sozialer Ebene.

Aggression wird immer mit negativen Emotionen in Verbindung gebracht. Wut, Enttäuschung, Ärgernis und die Bereitschaft, »seinem Ärger Luft zu machen« – das meint häufig jemand, der von sich sagt, er sei aggressiv.

Nicht jeder, der aggressive Emotionen erlebt, also bspw. wütend ist, neigt zwangsläufig auch zu aggressiven Verhaltensweisen. Der Einsatz solcher aggressiven Handlungen ist geprägt von verschiedenen personen- und situationsabhängigen Faktoren:

Ein Mensch kann sich aggressiv verhalten, weil er von Natur aus die physiologischen Voraussetzungen besitzt (Anlage), oder

ein Mensch kann sich aggressiv verhalten, weil er durch seine Umwelt dazu erzogen wurde oder weil er durch seine Umwelt geprägt wurde, oder

ein Mensch kann sich aggressiv verhalten, weil er seine Verhaltensweisen bewusst und gezielt einsetzt, um ein Bedürfnis zu befriedigen oder ein Ziel zu erreichen (Selbststeuerung).

Jeder Mensch verfügt über ein individuelles Verhaltensrepertoire, welches sozusagen einen Speicher erlernter Verhaltensweisen darstellt. Die persönliche Handlung wird von einer inneren Bereitschaft zu oder gegen aggressive Verhaltensweisen beeinflusst. Diese Bereitschaft wird von äußeren Faktoren, wie z. B. Sanktionserwartungen oder Befürwortungen Außenstehender sowie von inneren Faktoren, wie z. B. die derzeitige Stimmungslage beeinflusst und Erfahrungen geprägt.

3.3Aggressivität

Worin besteht der Unterschied zwischen Aggression und Aggressivität? Bedauerlicherweise ist diese Frage nur bedingt zu beantworten. In der Fachliteratur wird der Begriff »Aggressivität« in verschiedener Weise benutzt. Wir nehmen in diesem Buch die folgende Definition zur Grundlage.

Definition Aggressivität

Mit Aggressivität ist im Modell piag-B die Intensität bzw. das Ausmaß der Aggression gemeint. Ein prügelnder Fußballhooligan zeigt bspw. eine höhere Aggressivität als ein tadelnder Lehrer.

3.3.1 Ursachen, Auslöser und Motive

Bevor präventive und/oder interventive Maßnahmen gesucht und erarbeitet werden, muss nach den Gründen für aggressive Verhaltensweisen geschaut werden.

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Hierbei gilt der Grundsatz: Eine Person ist nicht aggressiv, sondern verhält sich aggressiv. Somit soll der Fokus auf das Verhalten gerichtet sein.

Jedes menschliche Verhalten hat eine Ursache. Bei den Ursachen für individuelle Verhaltensweisen wird in die Vergangenheit, also in die Biografie einer Person geschaut. Individuelle Erlebnisse und Faktoren in der Lebensgeschichte einer (betreuten) Person können ursächlich, zumindest mitursächlich für eine aggressive Disposition bspw.: Erziehung, etwaige Kriegserfahrung, Ängste, Nebenwirkungen von Medikamenten, individuelle Erfahrungen, krankheitsbedingte Einschränkungen, Mentalität, etc.

Ursachen sind nicht zu ändern, aber Auswirkungen können beeinflusst werden, bspw. durch Therapien oder Medikamente bei Schmerzen, Sozialtrainings und (Verhaltens-)Therapie, usw.

Auslöser können Überforderung, Unterforderung, Misserfolge, Lärm, Hunger und Durst, Hindernisse und Provokationen, physische Einwirkungen sein. Bei den Motiven geht es um die Frage, was eine Person mit ihrem Verhalten erreichen und bewirken will, was ihr Bedürfnis ist. Geht es um Abwechslung, Berührung, Entspannung, Freiheit, Gerechtigkeit, Hilfe, Intimität, Kommunikation, Respekt, Sexualität, Vertrauen, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Zuneigung, etc.?

Gefühle sind »Kontrolllämpchen« unserer Bedürfnisse. Unerfüllte Bedürfnisse lösen unangenehme Gefühle aus, welche auf eine baldige Erfüllung hinweisen sollen. Gefühle und Bedürfnisse lassen sich nicht abschalten oder gar verbieten.

3.4Destruktives Verhalten

Definition Destruktion

Der Begriff Destruktion stammt vom lateinischen destructio, was so viel wie »das Niederreißen« bedeutet. Er stellt den Gegensatz zur Konstruktion (lat. Constructio = das Bauen, die Aufstellung) dar.

Destruktives Verhalten ist demnach darauf ausgerichtet, Gegenstände und Sachverhalte zu beschädigen oder zu zerstören.

3.4.1 Gewalttätiges Verhalten

Während aggressive Verhaltensweisen das Ziel verfolgen, eine Person zu schädigen oder zu beeinträchtigen, steht bei gewalttätigen Handlungen das individuelle Erleben und Bewerten der betroffenen Person im Vordergrund. Sie wird so beeinflusst, dass sie in ihrer Entscheidung nicht uneingeschränkt frei ist. Eine Gewaltausübung ist nicht gleichermaßen eine aggressive Handlung, z. B. die Amtsgewalt.

Definition Gewalt

Unter »Gewalt« wird im Präventionskonzept piag-B ein Verhalten verstanden, das darauf ausgerichtet ist, die individuellen Grenzen einer Person zu überschreiten. Mit einem Menschen wird etwas getan, was dieser nicht will. Sein Wille wird durch Machtausübung gebrochen. Da die persönliche Grenze individuell ist, ist Gewalt somit das, was eine Person als Gewalt empfindet.

3.4.2 Herausforderndes Verhalten

Häufig wird herausforderndes Verhalten gleichgesetzt mit problematischen und/ oder aggressiven Verhaltensweisen.

Im Kontext der Demenzerkrankung wird eine bei Erkrankten wiederkehrende Verhaltensauffälligkeit als herausforderndes Verhalten beschrieben, das als störend und belastend von (pflegenden) Personen wahrgenommen wird. Hierbei kann es sein, dass sich eine betreute Person über längere Zeit nicht situationsgerecht und/oder sozial unangepasst verhält. Dieses Verhalten muss aber nicht bei allen Kranken und nicht in einer bestimmten Phase des Krankheitsverlaufs auftreten.

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Herausforderndes Verhalten stellt keine psychiatrische oder neurologische Diagnose dar!

3.4.3 Facetten aggressiver Verhaltensweisen

Aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen bieten nahezu unendlich viele Erscheinungsbilder. Jedem von uns sind etliche dieser Aggressionsfacetten bekannt.

In der folgenden Abbildung (image Abb. 1) sind einige, teils aus dem näheren Umfeld, teils aus den Medien bekannte Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens genannt, verbunden mit dem Versuch, diese nach gewissen Kriterien zu gruppieren. So wurden hier etwa Verhaltensweisen zusammengefasst, welche die Tötung als »Ergebnis« aufweisen (Mord und Suizid). Eine andere Gruppe umfasst Gewalttätigkeiten, welche gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet sind (sexueller Missbrauch, prügelnde Ehemänner...) und eine weitere zeigt verstärkt die kollektive Gewalt (Krieg, Rassismus...). Aggressive Verhaltensweisen können gegen sich selbst gerichtet sein (Suizid, Selbstverletzung) oder auch gegen Sachen (Spielzeug zerstören, Autoreifen zerstechen).

Diese Formen aggressiven Verhaltens (image Abb. 1) sind vom Betrachter wohl durchweg als negativ zu bewerten. Wie sieht es jedoch mit dem Polizisten aus, der einen Bankräuber auf der Flucht anschießt oder die Frau, welche aus Notwehr mit dem Messer zusticht, um so ggf. einen Missbrauch zu verhindern?

Nicht nur unterschiedliche Situationen können auch unterschiedlich beurteilt werden. Sehen wir den Vater, der seinem Kind eine Ohrfeige gibt. Der eine mag ihn als prügelnden Vater vorverurteilen, ein anderer rechtfertigt dieses Verhalten mit den Worten: »Ein Klaps hat schließlich noch niemandem geschadet.« Ein Nächster mag diese Situation mit diesen wenigen bekannten Fakten nicht beurteilen, da er nicht weiß, was diesen Vater zu dem Schlag bewogen haben mag.

All diese Verhaltensweisen sind gemäß unserer obigen Definition als aggressiv zu bezeichnen. Würden wir diese jedoch in gleichem Maße als aggressiv beurteilen?

Folgen Sie den jeweiligen Schritten (image Abb. 2) im Beispiel (image Tab. 1). Die Situation: Herr Roloff wohnt in einem Doppelzimmer, ihm wird ein neuer Mitbewohner angekündigt.

Tab. 1: Beispiel »Aggression als Reaktion«

A Ausgangsinformation: »Herr Roloff, heute um 10:00 Uhr kommt Ihr neuer Mitbewohner, der Herr Dahmen.«

Herr Roloff denkt: »Wer weiß, wann der ins Bett geht, welche Geräusche der macht, wie der riecht? Die letzten Erfahrungen haben mir eigentlich gereicht!«

B »Dann muss ich mich wieder anpassen, arrangieren. Nachts komme ich wieder nicht zur Ruhe.«
C Selbstbestimmung, Schlaf, Ausgeglichenheit.
Das Zimmer allein bewohnen.
D »Schon in meiner frühen Jugend habe ich gelernt, mein Vater hat es mir zudem vorgemacht: ›Wenn man unangenehm auffällt, kümmern sich die anderen und man bekommt seinen Willen.‹ Dafür muss man andere auch schon mal bedrängen.«
E »Die Erfolgsaussichten sind gut. Ich habe es schon zwei Mal geschafft, dass hier einer umgezogen ist, weil er es mit mir nicht ausgehalten hat.«
F 1
F 2
F 3
Vermeidung
Aggression
Konstruktive Lösung
z. B. Rückzug ins Bett
z. B. »fies« sein, Angst machen, drohen
z. B. im Vorfeld kennenlernen, Mitsprachemöglichkeiten, Einzelzimmer
G Hemmung: Angst vor Autorität
Gehört werden
H 1
H 2
H 3
Flucht:
Kampf:
Einvernehmen:
Andere Bedürfnisse in den Vordergrund stellen, z. B. häufig Toilettengang anmelden
Provokationen, Drohungen
Kompromiss, Einigung, Arrangieren
I Katharsis (Momente, die die Spannung auflösen): Der Mitbewohner verbringt seine Zeit tagsüber außerhalb des Zimmers.
J Nach drei Wochen zieht der Mitbewohner in ein anderes Zimmer.
K Geschafft! Festigung, Auskennen, gelernt, bestärkt!

Aggressive Verhaltensweisen entstehen nicht so einfach aus dem Nichts. Betrachten wir einige Faktoren näher:

A – Wahrnehmen und Interpretieren

Alles Gesehene, Gehörte oder anders Wahrgenommene wird individuell interpretiert und bewertet. Aufgrund der Erfahrung und der daraus resultierenden Disposition werden Sachverhalte sehr unterschiedlich wahrgenommen.

Möglicher präventiver Ansatz: Da die Wahrnehmung und die Interpretation sehr individuell sind, sollten diese immer ernst und wichtig genommen werden. Dem Betroffenen kann die eigene (anders geartete) Wahrnehmung mitgeteilt werden. Ihm sollte angeboten werden, die Wahrnehmung zu überprüfen.

B – Das aversive Ereignis und der aggressive Hinweisreiz

Aversive Ereignisse, also Situationen, welche von Personen als unangenehm erlebt und normalerweise vermieden werden, lösen eine Kettenreaktion an Emotionen, Assoziationen und teilweise sogar körperlichen Reaktionen aus. Nicht jeder nimmt ein bestimmtes Ereignis in gleicher Form als unangenehm wahr und nicht immer bewertet ein und dieselbe Person eine bestimmte Begebenheit gleichermaßen negativ.

Beispielsweise kann sich eine Person dadurch frustriert fühlen, dass eine zielgerichtete Handlung durch Fehlschläge oder Hindernisse gestört oder gar verhindert wird. Wir sprechen hier von der Hindernisfrustration.

Zu den aversiven Ereignissen zählen auch die Provokation, der verbale Angriff sowie beleidigende Äußerungen, aber auch physische Einwirkungen wie Lärm, Gedränge, unangenehme Temperaturen oder schlechte Luft.

Der aggressive Hinweisreiz ist ein Merkmal, welches mit Aggression in Verbindung gebracht wird und dessen Vorhandensein signalisiert, dass aggressive Verhaltensweisen naheliegen. Aggressive Hinweisreize können bspw. Schusswaffen sein.

Möglicher präventiver Ansatz: Mit dem Betroffenen sollte ergründet werden, weshalb das Wahrgenommene als aversiv erlebt wird. Oft helfen aufklärende Gespräche, aber auch psychologische Hilfen, um das Erlebte adäquat aufzuarbeiten (auch klassische oder operante Konditionierung). Manche Einwirkungen können sofort beseitigt werden.

Vielleicht waren die Anforderungen zu hoch. Fehlschläge frustrieren und lösen somit Aggressionen aus. Ein Training zur Erhöhung der Frustrationstoleranz könnte dem Betroffenen helfen, gelassener mit einem Nichtgelingen umzugehen (auch »Frustrations-Aggressions-Theorie«).

C – Aggressive Modelle

Es gibt Situationen, in denen aggressive Verhaltensweisen dem Individuum sinnvoll erscheinen. So wird bspw. die Wahl eines solchen Verhaltens erleichtert, wenn die entsprechende Person bei Mitmenschen in ähnlicher Situation ebenfalls aggressives Verhalten beobachtet, was sie bestärkt, wenn das gesehene Handeln zum Erfolg führte (auch »Lernen am Modell«).

Möglicher präventiver Ansatz: Mit dem Betroffenen sollte über aggressive Modelle reflektiert werden. Konstruktive Modelle können hierbei angeboten werden, indem Verhaltensalternativen aufgezeigt ggf. vorgelebt werden.

D – Verhaltensrepertoire

Zur Lösung von Konflikten bzw. zur Beseitigung aversiver Ereignisse greift der Mensch auf Verhaltensweisen seines Verhaltensrepertoires zurück. Dieses Repertoire umfasst alle ihm bekannten und möglichen Verhaltensweisen. Schreien, Schlagen oder ähnliche Reaktionen müssen nicht erlernt werden, schon kleine Kinder beherrschen diese Art des Verhaltens. Komplizierter ist es schon eher bei Konfliktlösungsstrategien, welche dem Menschen nicht »angeboren« sind, sondern erlernt werden müssen.

Möglicher präventiver Ansatz: Sozialtrainings wie bspw. das Anti-Gewalt-Training können sehr hilfreich sein, das Verhaltensrepertoire mit konstruktiven Verhaltensweisen »anzureichern«. Ein Austausch in einer Bezugsgruppe (peer-group) über verschiedene Ideen zu möglichen (Re-)aktionen kann das Verhaltensrepertoire beeinflussen.

E– Die Erfolgsaussicht

Erscheint es einem Individuum in einer bestimmten Situation sinnvoll, wenn es sich aggressiv verhält oder ist es in ähnlichen Situationen schon einmal mit aggressiven Verhaltensweisen zu seinem Ziel gekommen, so ist die Tendenz zu aggressivem Verhalten eher hoch (auch »operante Konditionierung«).

Möglicher präventiver Ansatz: Aggressives Verhalten sollte nach Möglichkeit nicht zum Erfolg führen. Wenn Einfluss auf Erfolg und Misserfolg genommen werden kann, sollten Mitarbeiter*innen diese Möglichkeit nutzen.

F – Kampf (fight), Flucht (flight), »Einfrieren« (freeze), Einvernehmen (tend-and-be-friend)

Das Modell geht zurück auf die »Fight-or-Flight«-Theorie des Psychologen Walter Cannon3. Es beschreibt biologische Stressreaktionen. Die Grundidee ist: Wir benötigen Stress kurzzeitig zum Selbstschutz. Über unsere Wahrnehmung erhalten wir das Signal einer Bedrohung, im Bruchteil einer Sekunde treffen wir die Entscheidung anzugreifen (fight) oder zu fliehen (flight). Wir erleben einen heftigen Adrenalinschub, der uns Kraft und Schnelligkeit verleiht. Nachdenken oder gar umfassendes Erfassen von komplexen Zusammenhängen ist in diesem Augenblick nicht möglich, die Gedanken sind fokussiert, verengt, wir blicken durch einen Tunnel.

Die Theorie von Cannon besagt, dass der Mensch auf diese Fähigkeit frühgeschichtlich angewiesen war, um sich den natürlichen Bedrohungen gegenüber zu behaupten. In Vorträgen wird dazu gern beispielhaft der uns plötzlich anfallende Säbelzahntiger bemüht. Was dem Menschen bis in die heutige Zeit bleibt, sind die Reaktionen auf den Stressreiz. Was sich – vorwiegend in der sogenannten zivilisierten Welt – verändert hat, sind die Umfeldbedingungen, die uns nun nicht mehr kurzzeitig, sondern dauerhaft stressen. Andauernde höchste Anforderungen im Arbeitsalltag, termingerechte Erledigung von Aufgaben, fordernde Chefs. Der Säbelzahntiger überfällt uns in verändertem Gewand und ist andauernd präsent.

»Fight« steht für den Kampf. Mein Gegenüber sagt erbost: »Nimm Deine Medikamente doch selbst!« und droht mit der Faust. Ich antworte: »Das wollen wir erstmal sehen!«, und habe mich für den Angriff entschieden. Das gilt auch für eine andere Art der Reaktion: »Wird sich schon zeigen, was Sie davon haben.« Drohungen, Bösartigkeiten, auch Ironie und Zynismus sind Formen des Angriffs. Die gegensätzliche Reaktion wäre die Flucht, z. B. aus dem Zimmer gehen, »klein beigeben«, einer Konfrontation auf jeden Fall aus dem Weg gehen.

Kommt es so weit, dass wir auch auf längere Sicht den Kontakt meiden, nicht reagieren oder resignieren, uns »tot stellen«, spricht man vom »Freeze«, dem Einfrieren oder Erstarren.

Einvernehmliche Lösungen suchen und einen freundschaftlichen Kontakt anstreben, meint die vierte Variante unserer Handlungsoptionen: »tend-and-be-friend«. So wirkt z. B. die empathische Antwort: »Ihnen hängen die Dinger zum Hals raus?« vielleicht Wunder und aus dem drohenden Gebrüll wird ein heftiges Nicken.

G – Die Hemmung

Angst oder eigene Normvorstellungen können eine Person daran hindern, in einer bestimmten Situation aggressiv zu reagieren. Das wäre z. B. der Schüler, der aus Angst vor dem schreienden Lehrer lieber »klein beigibt«, obwohl er über das Verhalten des Lehrers erbost ist oder der Verkäufer, der stets höflich zu bleiben hat, egal, wie sehr der Kunde ihn auch verärgern mag, da ihm sonst etwaige arbeitsrechtliche Konsequenzen drohen.

Möglicher präventiver Ansatz: Gruppennormen in sozialen Gemeinschaften sind sehr wichtig. Wenn das Verhalten im täglichen Miteinander besprochen wird, kann hier die Wichtigkeit des gegenseitigen Respekts hervorgehoben werden.

H – Das Verhalten

Aggressive Verhaltensweisen können nicht nur die Folge, sondern auch die Ursache für aversive Ereignisse sein, so etwa bei einem Kind, das von einem Elternteil geschlagen wird, weil es im Sandkasten ein anderes Kind wütend mit Sand beworfen hat.

Reaktionen auf Frustrationen können Ignoranz- (»eingefroren«), Flucht- oder auch Aggressionstendenzen zeigen, mit dem Ziel, vor dem Ereignis zu flüchten oder es zu beseitigen (freeze, flight or fight).

Möglicher präventiver Ansatz: Auch hier können bspw. Sozialtrainings hilfreich sein, das Verhalten zu trainieren.

I – Katharsis

Der Begriff Katharsis stammt aus dem Griechischen und bedeutet im Deutschen etwa »Reinigung«. Die Katharsis-Hypothese spielte in der Psychoanalyse eine bedeutende Rolle. Es ist die Theorie der Entlastung durch Ausleben oder Abreagieren von Emotionen, die subjektiv als Belastung erlebt werden. Diese Theorie ist nicht unumstritten, wird jedoch häufig beschrieben.

Möglicher präventiver Ansatz: Der betroffenen Person können Möglichkeiten der Bewegung angeboten werden. Oft zeigt sich, dass nach einer angemessenen Bewegung aggressive Emotionen reduzierter wahrgenommen werden (siehe auch Triebtheorie).

J – Zielüberprüfung

Man hat immer Ziele. Somit ist jedes Handeln mit einer Intention verbunden. Nach nahezu jedem Handeln wird das Ergebnis auf das Erreichen des Ziels überprüft.

Möglicher präventiver Ansatz: Wenn der Erfolg ausbleibt, somit das Ziel nicht erreicht wird, ist der Betroffene gehalten, sich Handlungsalternativen zu überlegen und ist eher geneigt, solche von anderen Personen anzunehmen. (Siehe »E – Die Erfolgsaussicht«, image S.31).

Beispiel Unsicherheit

Frau Magnusson weiß, dass sie nach der Vereinbarung von voriger Woche heute ihr Fußballspiel im Zimmer schauen kann und Frau Koslowski ausweicht.

Sie fühlt sich aber nicht sicher und spricht eine Pflegerin darauf an. Diese sucht kurze Zeit später das Gespräch mit Frau Koslowski und fragt sie, ob sich die beiden Damen schon über den Abend unterhalten hätten, es wäre ja wieder Fußball. Frau Koslowski zeigt sich zwar nicht glücklich, will aber die Vereinbarung einhalten.

K – Verhalten verstärken

Wenn jemand mit seinem Verhalten Erfolg hatte, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er dieses beibehält (siehe auch »operante Konditionierung« und »Lernen am Effekt«).

Möglicher präventiver Ansatz: Es sollte dafür Sorge getragen werden, dass konstruktive Verhaltensweisen zum Erfolg führen

Beispiel Verhalten nicht verstärken

In seiner Senioreneinrichtung sitzt Herr Kluss oft im Flur und wird laut. Mitarbeitende kümmern sich dann um ihn, weil sein herausforderndes Verhalten als störend erlebt wird.

Im Pflegeteam kommt der Gedanke auf, dass Herr Kluss das Ziel verfolge, Aufmerksamkeit zu erhalten. Da er dieses Ziel erreiche, verstärke das sein Verhalten. Die Mitarbeitenden beschließen nun, besonders in Momenten der Entspannung auf ihn zuzugehen und ihm Zuwendung zukommen zu lassen.

3.4.4 Die 13 Stufen der aggressiven Verhaltensweisen

Das Programm piag-B gruppiert 13 Stufen aggressiven Verhaltens in fünf Bereiche, um so ein methodisches Vorgehen im Rahmen des Deeskalationstrainings zu ermöglichen. Den einzelnen Aggressionsbereichen werden Interventionsmöglichkeiten gegenübergestellt.

Einen Grenzbereich stellt die letzte Stufe dar (Syndrom des Kontrollverlustes). Dieser – auch pathologische – Bereich sollte eher parallel zu den anderen Stufen gesehen werden, da diesen Menschen zumeist die Möglichkeit fehlt, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren und zu reflektieren.

Dokumentation und Reflexion

Dokumentation und Reflexion von Zwischenfällen mit aggressiven Verhaltensweisen sind zur Aufklärung, Vermeidung oder auch nur Reduzierung zukünftiger Zwischenfälle erforderlich. Die Unterteilung aggressiver Verhaltensweisen in sich unterscheidende Niveaus hilft hierbei.

Befremdlich mag die unterste Stufe -1 wirken. Das Aggressionsniveau entspricht mangelnder Selbstsicherheit, einem Verhalten der Zurückgezogenheit. Persönliche Rechte und eigene Bedürfnisse werden in den Hintergrund gestellt. Rechte und Bedürfnisse anderer Personen, etwa der Mitbewohner*innen oder Mitpatient*innen, geraten dagegen in den Vordergrund.

Auf dieser Stufe werden sich Menschen größtenteils aus dem Gruppengeschehen heraushalten. Nicht selten erfahren Menschen mit ängstlichem oder introvertiertem Verhalten Gewalt, da sie häufig als »wehrlose« Opfer angesehen werden. Allerdings kann es zur Umkehr kommen, wenn ein Punkt erreicht wird, an dem sich jemand nahezu maßlos zur Wehr setzt.

1. Bereich: Selbstsicherheit

Stufe -1: Mangelnde Selbstsicherheit

Verhaltensweisen, bei denen das persönliche Recht in den Hintergrund gedrängt wird und das Recht anderer zumeist respektiert wird. Persönliche Ziele werden eher selten gesteckt und erreicht. Merkmale und Beispiele:

Unsicherheit: introvertiertes Verhalten, leises, teilweise undeutliches Sprechen, Kurze Antworten auf Fragen, teilweise »Ein-Wort-Sätze«, Blickkontakt vermeiden,

keine klaren Bedürfnisäußerungen,

häufiger Rückzug,

abwertende Aussagen über sich selbst, bspw. »ich bin ja sowieso blöd«,

kein Verhalten, welches die Aufmerksamkeit anderer erregen könnte.

Stufe 0: Selbstsicherheit, Anpassung und Entspannung

Anstreben persönlicher Ziele sowie eines Gleichgewichts zwischen dem Respektieren der Rechte anderer und dem Wahren eigener Rechte. Merkmale und Beispiele:

Angemessene Kommunikation; deutliche, lautstärkenangemessene Aussprache, Blickkontakt, Gespräche adäquat beginnen, weiterführen und beenden, Zuhören und mitreden, angemessene Gestikulation,

Emotionen und Bedürfnisse äußern,

Vertreten der eigenen Meinung, Respektieren der Meinung anderer, Respektieren von Gruppennormen und Gruppenzielen, Hilfe anbieten oder auch um Hilfe bitten,

positive Äußerungen über sich selbst und über andere,

Kritikfähigkeit, d. h. angemessen Kritik geben, fremde Kritik ertragen.

Stufe 1: Selbstbehauptung

Auf Wahrung eigener Rechte und Befriedigung persönlicher Bedürfnisse nachdrücklich Wert legen. Es kommt zu »sozial unverträglichen« Situationen, da auf Rechte und Bedürfnisse anderer weniger Rücksicht genommen wird. Meinungen prallen aufeinander, werden aber noch nicht als Konflikt wahrgenommen. Merkmale und Beispiele:

Lautes Sprechen, nachdrückliche Artikulation, aufdringlicher Augenkontakt, Aufmerksamkeit anderer erregen, provokante Fragestellung, bspw.: »Du meinst wohl, ich bin zu blöd, oder?« deutliche, teils unangemessene Gestikulation,

positiv über sich selbst sprechen, durchaus negativ über andere, übertriebene Selbstsicherheit,

eigene Bedürfnisse stark und nachdrücklich in den Vordergrund stellen,

Desinteresse für Meinung und Emotionen anderer, gezielter Versuch, Personen gegeneinander »auszuspielen«,

eigene Interessen werden den Gruppeninteressen vorangestellt, Gruppennormen werden in Frage gestellt.

2. Bereich: Erregtheit

Stufe 2: Anspannung

Entspricht vielen Merkmalen der Stufe 1, ist jedoch zusätzlich von deutlicher Anspannung gekennzeichnet. Strategien werden überlegt, um andere zu überzeugen. Unterschiedliche Meinungen können zum Streit führen. Merkmale und Beispiele:

Körperliche Anspannung, angespannter Gesichtsausdruck, körperlich gesteigerte Aktivität, leichtes Schwitzen und leichtes Zittern, u. U. ängstliches Erscheinungsbild,

lautes und schnelles Sprechen,

leicht reizbar, andere für derzeitige Situation und/oder mögliche Folgen verantwortlich machen,

eingeschränkte Fähigkeit der Konzentration und objektiven Wahrnehmung.

Stufe 3: Erregung

Angespanntes Verhalten mit deutlicher Reizbarkeit und erhöhter kognitiver Aktivität. Der Druck auf andere Personen wird erhöht, um sich durchzusetzen. Gespräche werden oft abgebrochen, es findet kaum verbale Kommunikation statt. Merkmale und Beispiele:

Gesteigerte Unruhe, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, zunehmend beschleunigte Aktivitäten, damit verbunden eine gewisse Unsicherheit, geballte Fäuste als Signal der Kampfbereitschaft,

lautes Sprechen, häufig auch Schreien, erste Drohungen werden ausgesprochen, meist nicht zielgerichtet,

Bezichtigung gegen andere Personen, Unterstellungen.

Stufe 4: Aggressive Gereiztheit

Angespanntes Verhalten mit deutlicher Reizbarkeit und erheblicher motorischer Unruhe. Die Person glaubt sich im Recht und findet es daher gerechtfertigt, andere öffentlich zu beschuldigen. Merkmale und Beispiele:

Lautes Reden, vermehrtes Schreien, Fluchen, Selbstgespräche,

stürmische Aktivitäten, rasend, hastiges Umherlaufen,

heftiges Weinen,

Schweißausbrüche,

Signale der Gewaltbereitschaft.

3. Bereich: Aggressives Verhalten

Stufe 5: Drohende Destruktion (Gewalt gegen Sachen)

Anspannung verbunden mit der Androhung der Destruktion, um so z. B. Wut oder Angst bei anderen hervorzurufen. Androhungen, Personen anzugreifen, bleiben noch aus. Merkmale und Beispiele:

Aussagen, wie: »Ich kloppe den Laden hier gleich zusammen!«

Androhen, Gegenstände zu werfen,

Türen zuschlagen, zielgerichtet Gegenstände aus dem persönlichen Besitz anderer beschädigen,

mit Brandstiftung drohen.

Stufe 6: Drohende Gewalt (gegen Personen gerichtet)

Anspannung, verbunden mit der Androhung, gewalttätig gegen andere, zumeist bestimmte Personen zu werden. Auch dieses Verhalten hat zumeist das Ziel, negative Emotionen anderer hervorzurufen. Mit der Drohung soll erreicht werden, die Situation zu kontrollieren. Merkmale und Beispiele:

Deutliche Drohgebärden, zielgerichtet gegen bestimmte Personen,

Aussagen, wie: »Komm her, ich hau dir die Fresse ein!«

Distanzlosigkeit gegenüber Personen.

Stufe 7: Erniedrigende und verbale Angriffe

Erniedrigende und verbale Angriffe, zielgerichtet gegen bestimmte Personen, um diese psychisch oder sozial zu beinträchtigen. Die Beschimpfungen sind oft vulgär. Merkmale und Beispiele:

Beschimpfungen und Beleidigungen gegen bestimmte Personen, sie als minderwertig betiteln, Kompetenzen streitig machen: »Du hast doch keine Ahnung!«

Anspucken,

sexistische, rassistische Äußerungen gezielt gegen Anwesende, diskriminierend gegen Andersdenkende (bspw. einer anderen Religion),

»Verwünschungen«, bspw.: »Dir wünsche ich die Pest an den Hals!«

4. Bereich: Gewalttätiges Verhalten

Stufe 8: Destruktion (Gewalt gegen Sachen)

Physisch-gewalttätiges Verhalten gegen Gegenstände der näheren Umwelt mit dem Ziel, diese zu zerstören oder zu beschädigen, um auch so Personen psychisch zu beeinträchtigen. Merkmale und Beispiele:

Zielgerichtet Sachen aus dem Privatbesitz anderer zerstören,

hartes, wiederholtes Türenschlagen,

Zerreißen von Kleidungsstücken,

Werfen mit Gegenständen; Geschirr schmeißen, Blumen von der Fensterbank werfen, Versuch, Fensterscheiben einzuwerfen,

Mobiliar anzünden.

Stufe 9: Gewalttätig gegen Personen

Physisch-gewalttätiges Verhalten direkt und zielgerichtet gegen bestimmte Personen mit der Absicht, diese physisch, zumeist auch psychisch oder sozial zu beeinträchtigen. Ein begrenzter eigener Schaden wird schon als Gewinn angesehen, sofern der Schaden anderer als größer wahrgenommen wird. Merkmale und Beispiele:

Greifen von Personen, um sie in den eigenen Tätlichkeitsbereich zu bringen, an Kleidern ziehen,

Schlagen mit der flachen Hand oder der geballten Faust,

Kratzen und kneifen, Beißen, Ziehen an den Haaren, Würgen,

Treten.

Stufe 10: Gewalttätig mit Gegenständen gegen Personen

Physisch-gewalttätiges Verhalten direkt und zielgerichtet mit Waffen oder als Waffen. Gegenstände werden zweckentfremdet gegen bestimmte Personen gerichtet mit der Absicht, diese physisch, zumeist auch psychisch oder sozial zu beeinträchtigen. Merkmale und Beispiele:

Mit Geschirr, Flaschen oder Blumentöpfen werfen, mit einem Stock zuschlagen,

Angriff mit Besteck (vorrangig Messer),

Einsatz von Waffen.

5. Bereich: Syndrom des Kontrollverlustes

Stufe 11: Sinnlos erscheinende Brutalität (Pathologischer Bereich)

Gewalt (im pathologischen Rausch) unkontrolliert und unkoordiniert gegen andere Personen und/oder Gegenstände. Die eigene Vernichtung (sozial, z. T. auch physisch) wird dabei in Kauf genommen. Merkmale und Beispiele:

Heftiges, teilweises wiederholendes Schreien, Panik,

Äußerungen, wie: »Ich mach euch alle kaputt!«

zumeist nicht ansprechbar,

unkontrolliertes, zielloses Zuschlagen, teilweise mit geschlossenen Augen, teils unkoordinierte Bewegungen.

Im Folgenden Seiten sehen und lesen Sie von oben nach unten links das Modell der Verhaltenskategorisierung in grafischer Darstellung (image Abb. 3) und knapper Skizzierung einzelner Stufen (image Tab. 2).

Tab. 2: Die 13 Stufen der Eskalation im Beispiel

  »Ich musste schon die ganze Woche zu Herrn T. Na gut, einmal noch, dann ist das erst mal vorbei…« -1
In meinem Zimmer fühle ich mich recht wohl. »Guten Morgen Herr T., ich komme zur Grundpflege.«! 0
Der schon wieder, ich hätte lieber eine hübsche Junge …. Geh weg! »Herr T., so geht das nicht. Wir haben gestern schon nur Katzenwäsche gemacht, außerdem ist heute Ihr Duschtag.« 1
»Nein, lass mich doch in Ruhe: Ich dusche nächste Woche! Lassen Sie mich jetzt bitte in Ruhe!« »Das geht nicht, ich kann das nicht den Kolleg*innen am Wochenende überlassen….« 2
  »Nein, Herr T., heute geht es mal nicht nach ihrem Willen. Stehen Sie jetzt auf!« 3
»Ich glaube, Sie sind schwer von Begriff!« Dreht sich mit dem Gesicht zur Wand und krallt die Hände in die Bettdecke.   4
  »Das muss ich mir echt nicht bieten lassen.« 5
Krallt sich tiefer in die Decke. »Also, Herr T. Notfalls kann ich Sie auch gegen Ihren Willen duschen!« 6
»Versuchs doch, Du Schlampe!« »Das habe ich ja wohl nicht gehört!« Fasst an den Schultern und versucht ihn herumdrehen. 7
    8
Verkrampft sich erst, dreht sich plötzlich um und schlägt der Pflegerin mit der Faust ins Gesicht.   9
    10
    11

In der Dokumentation finden wir zu diesem Vorfall folgenden Bericht.: »Herr T. war schon schlecht gelaunt, als ich in das Zimmer kam, und hat wieder das Duschen verweigert. Als ich ihn aufforderte, aufzustehen, rollte er sich absichtlich gegen die Wand und krallte sich an der Bettdecke fest. Ich fasste ihn an den Schultern, um ihn auf die Seite zu drehen, da schlug er mir mit der Faust ins Gesicht. Ich habe die Pflege daraufhin abgebrochen.«

Die Sichtweise der pflegebedürftigen Person fehlt in dieser Darstellung. Dabei wäre es so wichtig, besonders in der Reflexion eines solchen Vorkommnisses, möglichst viele Fakten zusammenzutragen und die Perspektiven der Beteiligten zu berücksichtigen. Niemandem ist damit geholfen, der einen Person einen aggressiven Charakter zuzuschreiben oder der anderen Person unprofessionelles Handeln zu attestieren.

Wenn wir die »eigenen Anteile« (image Kap. 6.1.1) auf der einen sowie die Ursachen, Auslöser und Motive auf der anderen Seite außer Acht lassen, berauben wir uns der Chance, aus dem Vorfall zu lernen. Stattdessen sorgen wir für eine Verfestigung des Blicks auf Herrn T. Dabei benötigen wir beides: Zu wissen, wie wir uns in der Arbeit mit ihm ausreichend schützen können, und wie wir ihn erreichen, ohne dass Eskalationen unwahrscheinlich werden.

image

Tipp

Um mit den Beteiligten über die Auswertung eines Vorfalls – z. B. in einer Fallbesprechung zu reflektieren, können Sie die 13 Stufen als Grundlage verwenden und anhand des Modells miteinander die beiderseitigen Betroffenheiten, Eskalationsstufen und Handlungsmotive nachvollziehen.

_______________

2Vgl. Fürntratt E (1974): Angst und instrumentelle Aggression. Beltz, Weinheim/Basel

3Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Lexikon der Biologie. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/kampf-oder-flucht-reaktion/35305

4 Gewaltformen

Thomas Hecker

»Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation (Mangel, Verlust, Entzug von etwas) führt«4, lautet die Definition von »Gewalt« der WHO.

Wenn es speziell um Gewalt gegen ältere Menschen geht, wird die Definition um das Beziehungselement erweitert: »Unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird. Von zentraler Bedeutung ist für diese Definition, dass zwischen einem potenziellen Täter und einem potenziellen Opfer ein Vertrauensverhältnis besteht [...].«5

»Als wesentliche Formen von elder abuse [Gewalt/Misshandlung gegen ältere Menschen, Anm. d. Autors] werden in der Regel benannt

Körperliche Misshandlungen

Psychische Misshandlung/verbale Aggression

Pflegerische Vernachlässigung

emotionale/psychosoziale Vernachlässigung

finanzielle Ausbeutung

vermeidbare Einschränkung der Freiheit, Handlungs- und Entscheidungsautonomie.«6

Eine Gewalthandlung kann aus mehreren Gewaltformen bestehen. So kann eine Körperverletzung mit einer Erniedrigung einhergehen. Zur Charakterisierung der Gewaltformen ziehe ich im Folgenden die Schrift des Landespräventionsrats NRW und die Ausführungen auf der Seite »Frieden Fragen« der von der Bundesregierung Deutschland unterstützen Berghof Foundation© heran.

4.1Misshandlung/Gewalt

Tab. 3: Körperliche Misshandlung/Gewalt

Landespräventionsrat NRW Häufig genannt
»Unmittelbar:
Schlagen, Schütteln, Kneifen, Anwendung, körperlicher Zwangsmaßnahmen, mechanische, Fixierung, Entzug von körperlichen Hilfsmitteln usw.

mittelbare:
unberechtigte Medikamentengabe (i. d. R. zur Ruhigstellung) usw.«

Prügel, Schläge mit Gegenständen, Kneifen, Beißen, Schneiden, Treten und Schütteln, Stichverletzungen, Vergiftungen, Würgen und Ersticken, Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen

Körperliche Gewalt findet auch da statt, wo eine Person ohne Ankündigung oder gegen ihren Willen auf die Seite gedreht, in den Stuhl gedrückt, am Aufstehen gehindert wird. Wenn der Becher am Mund gehalten und gegen die Lippen gedrückt, womöglich noch die Nase zugehalten wird, um das Schlucken zu erzwingen. Wenn festgehalten wird, um ein Wegbewegen zu verhindern. Wenn jemand kalt abgewaschen oder auf andere Weise körperlich misshandelt wird. Wenn gegen den Willen, bzw. ohne Einwilligung ein Katheter gelegt wird.

4.1.1 Psychische, seelische, emotionale Misshandlung/Gewalt

Tab. 4: Psychische, seelische, emotionale Misshandlung/Gewalt

Landespräventionsrat NRW Häufig genannt
»verbale Aggression, Missachtung oder Ignorierung, emotionale Kälte, soziale Isolierung, Bedrohung mit körperlicher oder anderer Gewalt oder anderen Übeln, Beschimpfungen, Demütigungen usw.«* Ablehnung, Beschimpfung, Demütigung, Herabsetzung, Überforderung, Liebesentzug, Zurücksetzung, Gleichgültigkeit, Ignorieren.

Angst machen, Alleinlassen, Isolation, Drohungen.

Überbehütung, Überfürsorglichkeit.

*Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen (2006): Gefahren für alte Menschen in der Pflege. Basisinformationen und Verhaltenshinweise für Professionelle im Hilfesystem, Angehörige und Betroffene. S. 10

Psychische Gewaltformen finden sich in Strafen, Entzug von Kontakt und menschlicher Zuwendung, Beleidigen, Beschimpfen, Beschämen und Bloßstellen. Jemanden mit Worten verletzen ist psychische Gewalt, Wundfotografie ohne klare Einwilligung ebenso.

4.1.2 Sexualisierte Gewalt

Der Landespräventionsrat NRW findet für die Gewaltform »sexueller Missbrauch« die Beschreibung: »Missachtung der individuellen Schamgrenzen, nicht einverständliche Intimkontakte usw.«7

Das ist für uns Autoren ein deutliches Zeichen dafür, dass sogar in einer Arbeit, in der sich intensiv mit der Gewaltthematik befasst wurde, noch wenig Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die Thematik »sexualisierte Gewalt« bestand.

Dass hier grundlegende Aspekte fehlen und die spezifische Dynamik noch gar nicht erkannt ist, führt dazu, dem Thema »Sexualisierte Gewalt« mit dem klaren Fokus auf die Mehrdimensionalität dieser Gewaltform als eigenständiges Kapitel (image Kap. 5) zu widmen.

4.2Gewalt durch anvertraute Personen

Oft können wir im Nachhinein gar nicht erkennen, zu welchem Anteil die Akteure beteiligt waren. Die oben genannten Gewaltformen können sowohl vom Personal wie vom Anvertrauten oder auch von Dritten ausgehen.

Zudem gibt es Formen indirekter Gewalt, die hilfsbedürftige Menschen wählen, um z. B. Zuwendung oder Aufmerksamkeit zu erhalten, was nicht bedeutet, dass es sich um eine Art der positiven Aufmerksamkeit handeln muss.

Indirekte Gewalt ist z. B. »Verursachen von Mehrarbeit durch Inkontinenz, Verursachen von Mehrarbeit durch Langsamkeit, Nahrungsverweigerung, Verweigerung der Zustimmung« schreibt schon Erich Grond in den frühen neunziger Jahren.«8 Heute sprechen wir häufig von »herausforderndem Verhalten«.

Manchmal greift allerdings dieser Begriff auch zu kurz und verharmlost gewalttätiges Verhalten durch Anvertraute. Einige Erfahrungen aus meiner frühen Berufszeit:

Eine 90-jährige Frau wartet am Eingang eines Flurs, ein Dösen vortäuschend, auf ihr unliebsame Personen. Mit dem Gehstock fährt sie ihnen unvermittelt zwischen die Beine und bringt sie zu Fall.

Ein Bewohner wandelt nachts zwischen den Zimmern bettlägeriger Bewohnerinnen umher und belästigt sie.

Eine Bewohnerin wartet manchmal darauf, dass jemand zum Abholen des Essens ins Zimmer kommt und wirft dann das volle Tablett nach dieser Person.

Ein Bewohner drängt die »Nachtschwester« zu sexuellen Handlungen, sie kann sich ins Dienstzimmer retten.

Ein Mann, der mit seiner Ehefrau in einer Altenpflegeeinrichtung lebt, droht den Pflegenden mit Schlägen, wenn sie die Pflege nicht so durchführen, wie er es will.

Ein Mann, der ambulant versorgt wird, richtet eine geladene Waffe auf eine Kollegin.

4.3Gewalt durch fachlich Handelnde

Fachlich Handelnde können durch ihre fachliche Stellung und das Machtgefälle zu den Klient*innen Gewalt ausüben. Klient*innen besitzen nicht die gleiche Kompetenz (einschließlich der Handlungsspielräume), darüber zu sprechen oder sich bei der Einrichtungsleitung darüber zu beschweren. Gewalt durch fachlich handelnde Person ist fachliches Fehlverhalten, dass

1. arbeitsrechtliche Folgen haben muss,

2. strafrechtliche und zivilrechtliche Folgen haben kann.

4.3.1 Vermeidbare Einschränkung der Freiheit, Handlungs- und Entscheidungsautonomie, Einschränkung des freien Willens

Nach dem BGB gilt als Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM), wenn einer Person durch »mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen«9 wird.

FEM schränken die körperliche Bewegungsfreiheit ein. Die betroffene Person ist körperlich und/oder kognitiv nicht in der Lage, die Beschränkung selbst rückgängig zu machen. Hierzu zählen besonders:

mechanische oder elektronische Verhinderungs-, Alarm- und Überwachungsmaßnahmen, wie Bettgitter, Fixiergurte, Vorstecktische, Einschließen, Verwenden von Textilien, die die Bewegungsfreiheit einschränkt (z. B. Ganzkörperanzüge, Schlafsäcke), dauerhaftes Feststellen der Rollstuhlbremse, Wegnehmen des Notrufgeräts,

sedierende Psychopharmaka,

Drohungen,

körperliche Gewalt,

Verhindern der Zugänglichkeit von Kleidungsstücken (z. B. Schuhe) oder Hilfsmitteln, die für die Mobilität benötigt werden. 10

Tatsächlich fällt die Beurteilung, wann es sich um eine wohlwollende Einflussnahme auf eine Entscheidung, die eine Person trifft, oder eine Einschränkung der Entscheidungs- und Handlungsautonomie sowie des freien Willens handelt, nicht immer leicht.

Denken wir z. B. an die Medikamentengabe bei einer kognitiv eingeschränkten Person. Wir wissen genau, dass ihr die regelmäßige Einnahme eines bestimmten Schmerzmedikaments Erleichterung verschafft und ihre Lebensqualität erhöht. In dem Moment der Verabreichung geht es allerdings gegen ihren aktuellen Willen.

Ein wesentliches, aber nicht alleiniges Kriterium für die Beurteilung, ob es sich um eine solche Einschränkung handelt, ist die Absicht der Handlung. Geschieht sie eindeutig zum Wohl der anvertrauten Person oder dient sie eher der Gewährleistung oder Vereinfachung eines Ablaufs und damit meinem oder dem betrieblichem Wohl?

Ein zweites Kriterium ist die Wertorientierung. An welchem Wert misst sich die Handlung? Finden wir hinter der Handlung eine »gute Abhängigkeit« wie Christian Müller-Hergl schreibt, wenn es darum geht, Situationen so herzustellen, dass der Widerstand nicht nötig ist? Handele ich, um einer Diskussion mit z. B. Vorgesetzten, Kollegen oder Angehörigen aus dem Weg zu gehen oder halte ich ggf. aus persönlichen Gründen etwas nicht aus (z. B. das Masturbieren einer pflegebedürftigen Person)?

4.3.2 Vernachlässigung

Tab. 5: Vernachlässigung

Landespräventionsrat NRW Häufig genannt
»Unterlassen von notwendigen Hilfen im Alltag, hygienischen und allgemeinen Versorgungsleistungen, insbesondere Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug bis hin zur Entstehung von sogenannten Liegegeschwüren (Dekubitus) durch mangelhafte Pflege bei Bettlägerigkeit usw.«* Als Erscheinungsform der körperlichen wie der seelischen Misshandlung, Verweigern von Hilfe, Zuwendung, Liebe und Akzeptanz, Betreuung, Schutz und Förderung.

Physischen Mangel erleiden lassen (z. B. mangelnde Ernährung, unzureichende Pflege und gesundheitliche Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung).

* Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen 2006, S. 10

4.3.3 Gewalt in Pflege- und Betreuungshandlungen

Diese Aktualisierung (image Tab. 6) einer Übersicht aus dem Jahre 2006 weist auf die Übergänge von pflegerischen Maßnahmen zu gewaltsamen Übergriffen hin. Sie umfasst Handlungen aus Unachtsamkeit bis hin zu bewusster Herabwürdigung.

Tab. 6: Gewalt in Pflege- und Betreuungshandlungen*

Aktivität Verhalten in Pflegesituationen (Beispiele)
Kommunikation Über den Kopf der Patient*innen hinweg reden, schimpfen, ignorieren, nicht antworten, bevormunden, duzen
Soziales Leben Personen nicht wahrnehmen, Kontakte zu anderen unterbinden, Radio oder Fernseher ungefragt an- oder ausschalten
Bewegung Fixieren oder gegen den Willen mobilisieren, falsche Hilfestellungen, unangemessenes Anfassen
Körperpflege Körperpflege gegen den Willen, ruppiges Handeln bei der Körperpflege, zu kaltes oder zu heißes Wasser, unangemessene Berührungen im Intimbereich, unangemessen langes Belassen in unbekleidetem Zustand
Ausscheiden Unnötige Katheterisierung oder nicht notwendiges Anlegen einer Windelhose, »Liegen lassen« im Urin oder Kot, zu lange auf der Toilette warten lassen
Essen und Trinken Einflößen von Essen und Trinken unter Zwang, Essen zu rasch reichen, Mahlzeiten vergessen, Vorenthalten von notwendigen Hilfsmitteln oder auch unnötiges Aufdrängen von Hilfsmitteln
Ruhe und Schlafen Störungen im Tag-Nacht-Rhythmus, zu frühes Wecken und Waschen, medikamentöse Ruhigstellung ohne medizinische Indikation

* Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen 2006, S. 10, leicht modifiziert

4.3.4 Finanzielle oder andere materielle Ausnutzung

Finanzielle oder andere materielle Ausnutzung ist ebenso eine Form der Gewalt. Sie zeigt sich durch:

»unbefugte Verfügungen über das Vermögen alter Menschen;

Überredung oder Nötigung zu Geldgeschenken,

Entwenden von Geld und vermögenswerten Gegenständen

bis hin zur Erpressung von geldwerten Vorteilen usw.«11

Hilfsbedürftige Menschen sind dieser Form, allein aufgrund der strukturellen Gegebenheiten, oft völlig ausgeliefert. Ob im ambulanten Rahmen, der immer auch an das Feld privater Formen von Hilfe- und Pflegeleistungen grenzt, oder im stationären Bereich: Die Aussicht auf unbemerkten Betrug, Diebstahl, Übervorteilung und Erpressung ist aufgrund der Wahrscheinlichkeit der Nicht-Entdeckung im Verhältnis zum Abhängigkeitsgrad, bzw. zum Grad der Einschränkungen, sehr hoch. In Einrichtungen der stationären wie ambulanten Einrichtungen kommt es z. B. immer mal wieder zu Diebstahl.

4.3.5 Gewalt durch digitale Medien und das Internet

»Mechthild M. sitzt im Rollstuhl, sie lächelt beseelt und kratzt sich mit einer Klobürste den nackten Oberkörper. »Das war eine gute Idee«, sagt sie. Die 78-Jährige ist dement. Als das Handyvideo entsteht, lebt sie in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt, Wohnbereich II, in Lambrecht in der Pfalz. Unter den Mitarbeitern aus dem Heim soll der Clip die Runde gemacht haben. Keiner von ihnen hat die Heimleitung verständigt.«12 So beginnt der Spiegel-Online-Artikel »Unser erster Mord« im Jahre 2018 über eine Serie von Misshandlungen, Demütigungen bis hin zu Mord in einer Seniorenpflegeinrichtung in der Pfalz.

Die Betrachtung von Gewaltformen, die sich mithilfe digitaler Medien und Internet auf hilfs- und pflegebedürftige Menschen auswirken, spielt noch kaum eine Rolle. Über tatsächliche Ereignisse in missbräuchlicher, würdeverletzender Weise in Posts oder anderer Form gibt es kaum (fach-)öffentliche Wahrnehmung. Dass diese Form von Gewalt existiert, daran besteht kein Zweifel. Sie ist aber, ähnlich wie alle Gewaltformen, die sich im Verborgenen abspielen, schwer zu entdecken. Sie ist stark abhängig von wachsamen Mitarbeitenden, die sich nicht einem falsch verstandenen Korpsgeist unterordnen.

Was die Mitarbeiterschaft betrifft, sind sämtliche Erscheinungsformen der Gewalt in Netzwerken oder auf Plattformen, in Form von Ausschluss, Cyber-Mobbing, Shitstorm etc. wirksam. Dass sich diese Gewalterfahrungen in der Teamarbeit und der Arbeit mit hilfsbedürftigen Menschen auswirkt, dürfte uneingeschränkt bejaht werden.

4.4Grenzverletzung, Übergriff, strafrechtlich relevante Formen der Gewalt

Im allgemeinen Sprachgebrauch tauchen seit einigen Jahren in der öffentlichen Aufmerksamkeit gehäuft die Begriffe »Grenzverletzung«, »Grenzüberschreitung« und »Übergriff« auf. Damit wir wissen, worüber wir reden, benötigt der fundierte Umgang mit grenzverletzendem Verhalten eine Differenzierung der Begriffe:

»Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden und/oder aus fachlichen bzw. persönlichen Unzulänglichkeiten oder einer »Kultur der Grenzverletzungen« resultieren,

Übergriffe, die Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber der Klientel, grundlegender fachlicher Mängel und/oder einer gezielten Desensibilisierung im Rahmen der Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs/eines Machtmissbrauchs sind,

strafrechtlich relevante Formen der Gewalt (wie zum Beispiel körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Erpressung/(sexuelle) Nötigung).«13

Michael Jung-Lübke sagt dazu: »Wehret den Anfängen. Wir warten nicht ab, bis es zu einer strafrechtlich relevanten Tat kommt, sondern benennen grenzverletzendes und übergriffiges Verhalten. Wir ordnen es ein und erklären eindeutig, mit welchen arbeitsrechtlichen Sanktionen zu rechnen ist, bzw. welche Schutzmaßnahmen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen. Erinnern Sie hierzu die 13 Stufen der aggressiven Verhaltens in der Verhaltenskategorisierung.« (image Kap. 3.4.3)

Bei der Kategorisierung und der Zuordnung der Erläuterungen (image Abb. 4) orientieren wir uns an der Veröffentlichung des Landschaftsverbandes Rheinland. Der ursprüngliche Text bezieht sich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und wurde von uns an die Arbeit mit schutzbefohlenen Erwachsenen angepasst.14

Einmalige Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden

Grenzüberschreitende Umgangsweisen in Institutionen:

körperlich zu nahe kommen,

den respektvollen Umgang missachten,

Schamgrenze verletzen,

die eigene Machtposition ausnutzen.

Grenzüberschreitende/unfachliche Interventionen:

körperliche Grenzen, Intimsphäre missachten,

grenzüberschreitende Gespräche/Befragungen durchführen,

Stigmatisieren,

das Recht auf Schutz vor körperlichen, sexuellen und emotionalen Übergriffen und Gewalt durch andere missachten, z. B. durch Bagatellisierung oder Leugnen der eigenen Verantwortung für den Schutz bei Grenzverletzungen durch andere.

Übergriffe in Institutionen

Psychische Übergriffe

systematische Verweigerung von Zuwendung, Unterstützung in Überforderungssituationen verweigern,

Verniedlichen (z. B. »Kindersprache«),

Gegen den Willen umkleiden, waschen, ernähren, etc.,

verbale Gewalt (z. B. verbale Demütigung Abwertung, rassistische Äußerung),

Bloßstellen von unverschuldeten persönlichen Defiziten (z. B. Einnässen), sexistische Abwertung,

Suggestion von Machtlosigkeit: »Dir glaubt doch sowieso niemand!«

Missbrauch der Befugnisse (Machtmissbrauch), z. B. Essen zu früh abräumen, jemanden beschmutzt lassen, Kleidung (nur) so wählen, dass sie die Pflege erleichtert,

Intrigen zwischen Anvertrauten und Mitarbeitenden säen,

Kolleg*innen vor oder bei der Klientel abwerten (z. B. durch (falsche) Informationen über deren Privatleben, fachlichen Mängel oder institutionelle Konflikte).

Vernachlässigung/Verweigerung von

Fürsorge,

Förderung,

Vermittlung notwendiger therapeutischer und medizinischer Hilfen.

Sexuelle Übergriffe

ohne Körperkontakt:

wiederholte Missachtung des Rechts auf Privatsphäre und Intimität bei der Körperpflege,

Sexualisierung des Kontaktes,

wiederholte Missachtung der Schamgrenzen und sexuellen Normen in unterschiedlichen Kulturen durch verbale sexuell getönte Grenzverletzungen,

abwertende/sexistische Bemerkungen über Schutzbefohlene bzw. deren Angehörige,

sexuell aufreizende Kleidung von Mitarbeiter*innen im Berufsalltag, z. B. bauchfreie Freizeitkleidung oder Kleidung, unter der sich die Genitalien abzeichnen bzw. nicht ausreichend bedeckt sind: sehr enge Hosen, sehr kurze Röcke, tiefe Ausschnitte, transparente Kleidung, Shorts mit weiten Beinen,

Voyeurismus.

mit Körperkontakt:

wiederholte Missachtung einer (fachlich) adäquaten körperlichen Distanz (grenzüberschreitende, zu intime körperliche Nähe und Berührungen im alltäglichen Umgang),

gezielte/wiederholte, angeblich zufällige Berührungen der Genitalien (z. B. bei Pflegehandlungen, Hilfestellungen, im alltäglichen Umgang),

wiederholter Austausch von Zärtlichkeiten, die eher einem familialen Umgang entsprechen.

Strafrechtlich relevante Gewalthandlungen

Körperverletzung,

sexuellem Missbrauch/sexueller Nötigung,

Diebstahl,

Erpressung.

4.5Strukturelle und kulturelle Gewalt

Der Friedensforscher Johan Galtung15 unterscheidet drei Typen von Gewalt:

1. personale,

2. strukturelle und

3. kulturelle Gewalt.

Handlungen sind (z. B. auch in der Form von Verordnungen) als direkte Gewalt sichtbar, zugrundeliegende Strukturen oder Kulturen aber nicht. Der Kulturbegriff ist hier nicht ausschließlich als beschreibende Kennzeichnung von Volksgruppen oder genetischer Herkunft zu sehen, sondern ebenso als das Mitgebrachte durch gewachsene Formen des Zusammenexistierens von Menschen in bestimmten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften.

So ist z. B. die Kultur in einer katholischen Einrichtung anders geprägt, als die in der eines Träges, der seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat.

Während wir bei personaler oder direkter Gewalt Opfer und Täter*innen tatsächlichen, echten Personen und Personengruppen zuzuordnen können, wird strukturelle und kulturelle Gewalt in materiellen, sozialen, historischen usw. Gegebenheiten und übergeordneten Prinzipien beherbergt. Allein die Tatsache, dass es feste Uhrzeiten gibt, ist eine strukturelle und kulturelle Bedingung. Zum gewaltbegründenden Umstand wird sie, wenn jemand sich gegen seinen Willen daran halten muss. »Draußen nur Kännchen« – »Eintritt nur mit Fliege oder Krawatte« sind harmlose Varianten. Es gibt allerdings Floskeln, die strukturelle oder kulturelle Gewalt scheinbar rechtfertigen:

»Da muss sich auch mal durchsetzen.«

»Man kann sich ja nicht alles gefallen lassen.«

»Da kann ja jeder kommen.«

»Wer nicht will, der hat schon.«

Solche Floskeln dienen der Legitimation für gewaltvolle Handlungen in Form von Strafe, Ablehnung oder Nichtachtung. Sie sorgen aber auch dafür, dass Vorgesetzte keine ehrliche Rückmeldung über ihr Handeln erhalten oder bestimmte Themen nicht angesprochen werden (dürfen).

4.5.1 Strukturelle Gewalt

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Je geringer der Spielraum für individuelle Lösungen, desto höher der Grad an struktureller Gewalt.

Strukturelle Gewalt ist Bestandteil spezifischer organisatorischer oder gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien. Sie bestimmt Lebensbedingungen und schützt die (sprichwörtliche) »Leiche im Keller«. Sie zeigt sich z. B. in festen, nur dem Ablauf geschuldeten Uhrzeiten für Mahlzeiten, Toilettengänge, Zubettgeh-, oder Anfahrtzeiten.

So wird ein Mensch mit Demenz, der muslimischen Glaubens aufgewachsen ist, beim Mittagessen belogen, dass es sich um Rindfleisch handele, weil der Speiseplan an mehreren Tagen im Monat keine Wahlmöglichkeit bietet. Oder eine bettlägerige Frau wird während einer Qualitätsprüfung durch den MDK halbnackt mit einer Lifterwaage vor fremden Personen gewogen, ohne dass dafür ihr Einverständnis eingeholt worden ist.

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Strukturelle Gewalt erhält umso mehr Platz, je weniger Präventionsmaßnahmen die verantwortliche Leitung ergreift.

4.5.2 Kulturelle Gewalt

Definition Kulturelle Gewalt

»Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur (...), man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) –, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen (...)«*

So finden Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung, Rassismus, Sexismus, Homophobie und andere Ungleichheit ihre Legitimation.

* Galtung J (2007): Frieden mit friedlichen Mitteln: Friede und Konflikt. Lese und Budrich, Wiesbaden S. 341

Für den Friedensforscher Johan Galtung begründet kulturelle Gewalt die strukturelle Gewalt. Diese Begründung ist allerdings nicht offenbar, sondern verbirgt sich z. B. in Geisteshaltungen und als Folge davon in Erziehungsweisen und Ordnungsvorstellungen. Dies trifft auch auf die Betriebskultur in Unternehmen zu, in der sich Praktiken entwickelt haben:

In einem Pflegedienst muslimischer Trägerschaft wird der potenziellen Mitarbeiterin im Einstellungsgespräch gesagt: »Ohne Kopftuch dürfen Sie bei uns aber nicht arbeiten«.

In einem Pflegedienst christlicher Trägerschaft wird der potenziellen Mitarbeiterin gesagt: »Mit Kopftuch dürfen Sie bei uns aber nicht arbeiten.« (»Es sei denn, Sie treten in unseren Orden ein«).

»Galtung sieht einen engen Zusammenhang zwischen diesen Gewaltformen«16 und beschreibt das Dreieck der Gewalt als Teufelskreis, der sich selbst stabilisiert, »da gewalttätige Kulturen und Strukturen direkte Gewalt hervorbringen und reproduzieren.«17

Der Gewaltbegriff Galtungs zeigt, »dass es nicht ausreicht, Gewalt lediglich als zwischenmenschliche Handlung – als Verhalten – zu begreifen. Es müssen auch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Legitimationssysteme und auch gesellschaftliche Strukturen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Gewalt als komplexes Phänomen zu verstehen.«18

Beispiel Der Wohnungslose

Ein wohnungsloser Mann wird nachts, beschmutzt an Körper und Kleidung, nach Urin riechend und alkoholisiert, von zwei Polizisten auf die Station 1 des Krankenhauses gebracht. Gegen die Aufnahme hat er protestiert. Am Morgen wird in der Übergabe beraten, wer bei ihm die »Grundpflege« durchführen soll. Die Wahl fällt auf Pfleger Eric. Eric ist durchaus stolz, dass man ihm diese schwierige Aufgabe überträgt und dass er die Kollegen so unterstützen kann.

Im Zimmer fährt er den Patienten barsch an: »Aufstehen! Schluss mit Chillen!« Der wohnungslose Mann will nicht gewaschen werden, wehrt sich allerdings auch nicht. Ohne eine Verständigung über die Vorgehensweise landet er auf einem Toilettenstuhl, wird entkleidet und nackt vors Waschbecken geschoben. »Mann, stinkt das«, sagt Pfleger Eric und schrubbt den Mann gründlich ab. Dieser jammert, hebt aber Beine und Arme, je nach Aufforderung und lässt den Vorgang über sich ergehen. Als er, im Schlafanzug aus dem Krankenhausschrank wieder im Bett liegt, hört er den Pfleger sagen: »So, jetzt riechen Sie wieder gut. So kann man Sie auch zur Visite zulassen!«

Bei genauer Betrachtung ist auf den ersten Blick scheinbar allen gedient. Die Pflegerinnen mussten die schwierige Pflege nicht durchführen, Pfleger Eric konnte seine Kolleginnen in der Rolle des »starken Mannes« retten. Das hierarchische Verhältnis von Arzt und Pflege wird nicht in Frage gestellt – es kommt nicht zum Konflikt. Die Leitung der Pflege ist entlastet, da nicht involviert, somit können die Abläufe ungestört vonstatten gehen. Der Patient? Dem geht es jetzt gut, er ist sauber und riecht gut,… oder? Tatsächlich hat der Patient hier verloren. Er wurde »geopfert«, damit alle anderen Personen und die Struktur gewinnen können.

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4Eggert S, Sulmann D (2014): Aggression und Gewalt in der Pflege. ZQP-Analyse. Berlin, S. 2

5Ebd., S. 2

6Görgen T (2017): Gewaltprävention in der Pflege. ZQP-Report. Berlin, S. 10

7Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen 2006, S. 10

8Altenpflege 7/91, S. 412

9§ 1906 (Genehmigung des Betreuungsgerichts bei freiheitsentziehender Unterbringung und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen) des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), Absatz 4

10Liste orientiert an: https://pqsg.de/seiten/openpqsg/hintergrund-standard-fixierung.htm,

11Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen 2006, S. 10

12Jüttner J (2018): »Unser erster Mord.« Verbrechen in der Pfalz. https://www.spiegel.de/politik/unser-erster-mord-a-a0db9b3e-0002-0001-0000-000155843559

13Enders U, Kossatz Y, Kelkel M (2010): Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pädagogischen Alltag. S. 1, https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/dokumentationen/dokumente_95/jugendf_rderung/20130612/GrenzUebergriffeStraftaten.pdf

14Ebd.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842690851
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Altenpflege Demenz Gewalt Schutz Mitarbeiter

Autoren

  • Thomas Hecker (Herausgeber:in)

  • Stefan Freck (Herausgeber:in)

  • Peer Friedenberg (Autor:in)

  • Michael Jung-Lübke (Herausgeber:in)

Thomas Hecker ist Altenpfleger und Schulungsreferent zur Prävention sexualisierter Gewalt. Michael Jung-Lübke ist Pädagoge und Deeskalationstrainer. Stefan Freck ist Systemischer Supervisor und u. a. Referent für die Prävention sexualisierter Gewalt an schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen. „Gewaltfreie Pflege und Betreuung ist möglich!
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Titel: Gewaltprävention in Pflege und Betreuung