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(Kein) Sex im Altenheim?

Körperlichkeit und Sexualität in der Altenhilfe. Mit Praxisleitfaden.

von Ruth van der Vight-Klußmann (Autor:in)
116 Seiten
Reihe: pflege kolleg

Zusammenfassung

kurz und knapp:
Sicherheit im Umgang mit der Sexualität der Betreuten
Antworten auf ein Tabu-Thema
Leitfaden als Orientierungs- und Entscheidungshilfe

Alte Menschen in betreuten Wohn- und Lebensituationen haben ebenso das Bedürfnis nach gelebter Sexualität wie jüngere Personen. Dies stellt Pflege- und Betreuungskräfte jedoch vor große Herausforderungen:
Wie gehen sie mit den sexuellen Wünschen ihrer Kunden um?
Wie reagieren sie auf sexuelle Avancen ihrer Klienten?
Wie wehren sie sexuelle Übergriffe ab?
Wie gehen sie mit der Sexualität von Demenzbetroffenen um?
Was bieten Sexualbegleiterinnen und wie werden sie ggf. engagiert?

Auf diese und weitere Fragen bietet das Buch Antworten. In gut verständlicher Sprache werden Probleme erörtert und Perspektiven aufgezeigt - viele Beispiele vermitteln dabei einen direkten Praxisbezug.
Das Besondere: Dieses Buch enthält einen praktischen Leitfaden, der Pflegenden als Orientierungs- und Entscheidungshilfe und im Alltag dienen kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Generell erfordert die Pflegepraxis den unermüdlichen Einsatz der pflegenden und betreuenden Menschen: Pflegende sind den erschwerten Bedingungen von Schichtarbeit, Zeitknappheit, großer körperlicher sowie psychischer Anstrengung ausgesetzt und müssen bereit sein, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Nicht selten berichteten Pflegende daher von der Gefahr einer drohenden emotionalen Erschöpfung, dem sogenannten Burn-out-Syndrom.

Zusätzlich zu diesen gewohnten Belastungen stellen sich Fragen, ob und wie kann unter diesen Bedingungen einerseits auch den sexuellen Bedürfnissen der Bewohnenden entsprochen werden und wie können sich andererseits Pflegende gegen alltägliche, sexuelle Übergriffe seitens der Pflegebedürftigen schützen?

Konfrontiert mit der Sexualität der zu pflegenden Bewohner und Klienten sind Mitarbeitende der Pflege und Betreuung häufig ratlos. Sie fühlen sich überfordert und sind angespannt.

Eine Expertin brachte den folgenden Appell zum Ausdruck:
»Es muss etwas passieren, mit der Sexualität unserer Alten«.

Das Erkennen dieser Realität – der vorherrschenden, oft desaströsen Zustände sowohl für Bewohner als auch für Personal – sollte zwingend ein Handeln nach sich ziehen. Das vorliegende Buch sensibilisiert daher für die Thematik, gibt einen Einblick und zeigt schließlich Handlungsoptionen auf.

Während meines Master-Studiums in der Sozialen Arbeit forschte ich zum Thema »Sexualität im Alter«, speziell zur »Sexualität der stationären Altenhilfe«, und begann den hier vorliegenden Praxisleitfaden zu entwickeln. Er soll als Orientierungshilfe dienen sowie eine konkrete Unterstützung für das eigene Verhalten bieten. Jetzt ist er als Bestandteil dieses Buches einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, um sich als nützliches Instrument für das rat- und hilfesuchenden Pflege- und Betreuungspersonal zu bewähren.

Den Lesern dieses Buches wünsche ich eine spannende Reise durch ein Thema, das vermutlich vielen Menschen in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang begegnen wird. Allen Pflegenden und Betreuenden wünsche ich, dass sie von meiner Arbeit profitieren und eine Möglichkeit der Umsetzung in Praxis finden. Ferner hoffe ich, dass Ihnen mein Buch gefällt und Sie es gerne weiterempfehlen.

Hamburg, Dezember 2013

Ruth van der Vight-Klußmann

Anmerkung

Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Gender- und Queer-Zeitalters sowie einer legalisierten Intersexualität werden aus Vereinfachungsgründen generische Maskulina, also die männliche Formen, wie beispielweise Pfleger, Bewohner etc. in ihrer geschlechtsunspezifischen Bedeutung verwendet.

EINLEITUNG

Alte Menschen haben Sex.

Die Erkenntnis, dass auch betagte und pflegebedürftige Menschen ihre Sexualität ausleben möchten, ist in den Altenpflegeeinrichtungen bisher nicht konzeptionell übersetzt worden. Das macht nach bisherigem Kenntnisstand sowohl die Pflegenden als auch die Gepflegten hilflos und ohnmächtig. Um aus dieser defizitären Situation Konsequenzen ziehen zu können, muss das Problem bewusst werden, Betroffene müssen darüber ins Gespräch kommen und ein Prozess der Enttabuisierung eingeleitet werden.

Vor diesem Hintergrund stellen sich die folgenden Fragen:

Soll etwas an dieser »defizitären Situation« verändert werden?

Wenn ja: In welcher Art und Weise werden Veränderungen benötigt?

Oder: Sollte man den Status quo belassen, und wenn ja, warum?

Erst, wenn im Verlauf dieser Auseinandersetzung die Grenzlinien zwischen allen Beteiligten definiert werden und die Vor- und Nachteile einer Veränderung oder auch einer Beibehaltung der bisherigen Situation abgewogen worden sind, lässt sich offensiv an die Erarbeitung herangehen und mögliche neue Lösungsansätze konzeptionell umsetzen.

Was möchte dieses Buch?

Mit den vielen Beispielen aus der Praxis versucht dieses Buch, die Realität aus zwei Perspektiven darzustellen:

1. Hinsichtlich des Status quo, wie alte Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungen ihre Sexualität aktuell leben.

2. Bezüglich dessen, wie das Pflegepersonal diesbezügliche unausweichliche Situationen (mit)erlebt.

Dabei gliedert sich das Buch entlang der folgenden Struktur: In Vorwort, Einleitung und erstem Kapitel wird auf das Thema hingeführt, die Struktur vorgestellt und die Brisanz und Wichtigkeit der Thematik erläutert. Wesentliche Fragen werden aufgeworfen, um im Verlauf des Buches Antworten zu geben.

Das zweite Kapitel berücksichtigt eine multidisziplinäre Vorgehensweise: Soziobiologische, biologische und psychologische Aspekte des Begriffs Sexualität werden beleuchtet, um das Phänomen Sexualität zu fassen. Dabei wird der Begriff Sexualität als Arbeitsbegriff bestimmt und ein relativ weiter Bogen geschlagen, um all diese Zugänge zu berücksichtigen. Denn durch eine begriffliche Vorauswahl sollen keine Ergebnisse vorweggenommen werden.

Im dritten Kapitel wird eine Erklärung dazu gegeben, was unter Sexualität im Alter zu verstehen ist. Anschließend werden Vorfälle der alltäglichen Pflegepraxis aufgezeigt, um die Praxisrelevanz zu verdeutlichen. Dabei handelt es sich um Beispiele, die in Altenhilfeeinrichtungen zu drastischen Problemen führen können. Unzählige, eher unauffällige Beispiele aus dem Bereich der Sexualität im Alter sind nicht Bestandteil dieser Publikation.

Das vierte Kapitel stellt die gesellschaftliche Wahrnehmung des Themas dar. Es beinhaltet eine Auswahl von Filmen und Kampagnen, die sich mit dem Thema befassen. Sie werden benannt, kurz erläutert und dienen u. a. der Darstellung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgangs mit der Thematik.

Das fünfte Kapitel dient der Problematisierung. Hierzu wird die Altenpflegehilfe bezüglich der sexuellen Bedürfnisse ihrer Bewohner und Bewohnerinnen unter die Lupe genommen. Dabei werden einerseits einzelne Aspekte der Sexualität, andererseits die damit verbundenen, einzelnen Gefühle thematisiert.

Da es in dieser Lektüre nicht nur um Sexualität im Alter im Allgemeinen geht, sondern speziell um die in der stationären Altenhilfe, erfolgt im sechsten Kapitel eine exemplarische Darstellung zweier Konzepte der Altenhilfe. Sie werden hinsichtlich der Aspekte Körperlichkeit und Umgang mit der Sexualität ihrer Bewohner und Bewohnerinnen untersucht.

Im siebten Kapitel wird versucht, die wichtigsten Problemfelder zu beschreiben, die sich im Umgang mit sexuellen Bedürfnissen in Altenpflegeheimen ergeben. Hierbei wird vorrangig der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten es gibt, diese Probleme zu bewältigen. Es werden verschiedene Ansätze vorgestellt und ihre Vor- und Nachteile erläutert. So sind dies die Veränderungen im Gesundheitswesen, das sich verstärkt um ein komplementäres Verhältnis zwischen Gesundheitsförderung und Pflege bemüht und somit den Blick von der Defizitorientierung hin zu einer Ressourcenförderung versucht. Es werden verschiedene Erkenntnisse erhoben: über das offene Gespräch hin zu gesprächs- und psychologisch-therapeutischen Ansätzen, zur integrativen Validation bis zur Sexualassistenz/Sexualbegleitung. Zudem wird der Fragestellung nachgegangen, weshalb die Probleme der Sexualität im bio-psycho-sozialen Modell der Sozialen Arbeit nicht ausreichend erfasst und bearbeitet werden

Das achte Kapitel unterbreitet schließlich einen praktischen Vorschlag – den Leitfaden für den Umgang mit Sexualität von alten Menschen in Altenpflegeeinrichtungen und in der ambulanten Pflege. Er wird vorgestellt und ausführlich erläutert.

Im neunten Kapitel schließlich wird ein schwieriger Bereich der Thematik fokussiert: ethische Grenzen, die dieses Thema impliziert. Um die Arbeit allerdings im Umfang nicht völlig zu sprengen, muss sich hier auf wenige Aspekte beschränkt werden.

Im zehnten und letzten Kapitel, werden konzeptionelle Ansätze, Entwicklungsschritte, Aufbrüche, Grenzen und das Ergebnis erörtert.

1 SEXUALITÄT IM ALTER – FRAGEN

Vor dem Hintergrund, wie die Sexualität alternder, pflegebedürftiger Menschen aktuell in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird, stellen sich viele Fragen, die einen weiten Bogen um das Thema spannen und unterschiedliche Perspektiven beleuchten:

Was geschieht in den einzelnen Einrichtungen der Altenhilfe und Sozialen Arbeit in punkto Bewohner- bzw. Klientensexualität?

Wie kann oder soll(te) mit den sexuellen Bedürfnissen der Klienten umgegangen werden?

Was kann in den Einrichtungen angeboten werden?

Was sollten Einrichtungen vermeiden?

Wie ließe sich ein entspannter Rückzug der Klienten organisieren, um ihre Sexualität auszuleben?

Wo und wann hat diese intime »Privatsache« der Bewohner in einem Heim seinen Platz?

Wie kann ein Pflegeteam den sexuellen Bedürfnissen von Bewohnern gerecht werden?

Wie können Pflegende auf körperliche Übergriffe reagieren, die direkt auf sie selbst abzielen?

Was tun, wenn Pflegende und Bertreuende Ekel, Abscheu oder Scham empfinden?

Wie können die persönlichen Grenzen oder Grenzen anderer Klienten gewahrt und geschützt werden?

Was tun mit Bewohnern, die kognitiv nicht mehr in der Lage sind, Sexualität als Intimität zu verstehen?

Fakt ist: Mit dem Einzug in eine Einrichtung der Pflegehilfe verändert sich das Leben der Betroffenen radikal. Sie können nicht mehr daheim in der vertrauten intimen Atmosphäre der eigenen Wohnung leben, sondern sind genötigt, die Tage und Nächte in einer Pflegeeinrichtung zu verbringen. Ein bewusstes Ausleben der Sexualität, wie im eigenen Zuhause, ist nicht mehr möglich, denn alltagsbedingte Störungen und nicht abschließbare Türen sind im institutionalisierten Umfeld der Normalfall. Oft sind zudem der Partner oder die Partnerin nicht mehr vorhanden – der Fokus sexueller Begierden verschiebt sich daher oft auf das Pflegepersonal oder andere Bewohner und Bewohnerinnen, die dies als übergriffig und bedrohlich empfinden.

Zwangsläufig wird so auch die eigene Sexualität der Pflegenden zum Thema. Denn finden regelrecht körperliche Übergriffe statt, werden die Grenzen der Scham, des Ekels, der Abscheu überschritten. Pflegende fühlen sich angesichts dieser Situationen ohnmächtig, ihre eigenen sexuellen Werte und Anschauungen geraten auf den Prüfstand:

Was können und sollten sie tun, um sich selbst mit ihren dazu gehörenden Gefühlen zu schützen?

Welche Möglichkeiten tun sich auf, um im Team anerkannt zu bleiben, um weder als prüde, noch als zu frei und fortschrittlich zu gelten.

Wie können vor allem die persönlichen Grenzen gesichert werden?

Auch, wenn Betreuende nicht selbst Adressaten sexueller Wünsche werden, sind sie häufig Zeugen sexueller Handlungen und wiederum Gefühlen von etwa Scham oder Ärger ausgesetzt. Ihre Grenzsetzungen oder Bitten, diese Handlungen vor ihren Augen oder direkt an ihrem Körper zu unterlassen, werden krankheitsbedingt häufig nicht befolgt. Was können sie also tun, um sich in ihrem Team gut aufgehoben zu fühlen und nicht damit allein zu bleiben? Was kann ein Team selbst bewirken und was kann jeder einzelne in dieser Angelegenheit zu einem guten Arbeitsklima beitragen?

Sexualität kennt jeder. Trotzdem scheint es sinnvoll, sich vor Augen zu führen, was Sexualität eigentlich ist und welche Aspekte gerade hinsichtlich der Sexualität im Alter und in der Altenhilfe bekannt sein sollten. So lässt sich beispielsweise vor dem Hintergrund der Asymmetrie der Geschlechter auch in der Altenhilfe ein unterschiedliches Verhalten von Mann und Frau ableiten. Vermutlich wird eine Vielzahl von Problemen verständlicher werden, wenn etwa diese Unterschiede bewusst gemacht werden.

Daher soll im Folgenden erklärt werden, was unter Sexualität verstanden wird.

2 WAS IST SEXUALITÄT?

Sexuelles Verhalten von Menschen, auch in Altenhilfeeinrichtungen, ist in der basalen Funktion von Sexualität begründet, wie diese sich im Verlaufe einer langen evolutionären Stammesgeschichte herausgebildet und stabilisiert hat. Es ist deshalb notwendig, sich wenigstens »im Vorübergehen« der Grundfunktion von Sexualität und ihren geschlechtsspezifischen Ausprägungen zu erinnern.

Alles individuelle Leben ist zeitlich begrenzt und muss bei zweigeschlechtlichen Lebewesen – um artspezifisch erhalten zu werden – durch das Nadelöhr der Sexualität von Mann und Frau. Durch diesen »Umweg« der zufälligen Mischung von Erbanlagen zweier Menschen (Mann und Frau) können adaptive genetische Anpassungsprozesse an veränderte Umweltbedingungen in langen Zeiträumen ablaufen und »die Art«, in diesem Fall die Spezies Mensch, bleibt lange erhalten.

2.1 Soziobiologische Perspektive

Da die einschlägige Idee zur biologischen Evolution von Geschlechtsunterschieden von Darwin abstammt, wird hier erkennbar, dass eine Erkenntnisquelle nicht dem allerneusten Datum entsprechen muss, zumal es sich hierbei um grundlegende Erkenntnisse handelt.

Männer und Frauen sind dabei biologisch unterschiedlich ausgestattet (vgl. Bischof 1980). Neben anderen haben bedeutende Soziobiologen und Evolutionäre Psychologen1 in vielen Untersuchungen plausibel gemacht, dass daraus auch unterschiedliches, also geschlechtsspezifisches Verhalten wahrscheinlich wird – auch und gerade, was die Sexualität betrifft.

Laut Bischof erfordert schon die innere Brutpflege (Schwangerschaft) ein hohes »Parental Investment«, eine hohe elterliche »Investition«. Das weibliche Geschlecht muss ein nicht unterschreitbares Mindestmaß an »Parental Investment« mit Eintreten der Befruchtung erbringen, das höher liegt als der minimal mögliche Beitrag im männlichen Geschlecht. Die Natur zwingt die Frau, ihre Investitionen »in großen Portionen« zu verteilen, sie wird kaum 20 Kinder gebären können. Beim Mann ist die Zahl möglicher Nachkommen praktisch unbeschränkt. Auch während der Geburt muss die Frau (als Mutter) – aber auch, wenn sie stillt – die ersten Jahre nach der Geburt, mehr in die genetische Replikation investieren als der Mann (als Vater). Weil die Frau das »knappe Gut« (befruchtungsfähiger Eiszellen) verwaltet, müssen Männer dagegen dafür im Rahmen der sexuellen Selektion mehr investieren. Schon auf dieser Ebene lassen sich deutlich geschlechtsspezifische Verhaltensweisen unterscheiden. Sie können im Einzelfall individuell oder kulturell überformt oder verändert werden; im Durchschnitt und auf lange Sicht dürften sich solche geschlechtstypischen Verhaltensweisen auch bis hinein ins hohe Alter durchsetzen.

Mit anderen Worten, laut Bischoff: Die »Weibchen« sind selektiver als die »Männchen« und die »Männchen« sind kompetitiver als die »Weibchen«2. Das bedeutet, dass die Weibchen die Kinderzahl rationieren und die Männchen, um etwas von der rationierten Kinderzahl abzubekommen, um die Weibchen buhlen müssen. Gewissermaßen »prügeln« sie sich um die knappen Fortpflanzungschancen. Mit Bezug auf die Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Artgenossen um den andersgeschlechtlichen Artgenossen, die Partnerrivalität, verhalten sich die Männchen weitaus aggressiver als die Weibchen. Die Weibchen suchen sich ihren Partner aus, weil sie das knappe Gut verwalten und gleichzeitig mehr in Schwangerschaft und Geburt investieren. Wenn sie bei der Partnerwahl einen Fehler machen, bezahlen sie das teurer, als wenn dem Männchen ein Fehler unterläuft (vgl. Bischof 1980, S. 34).

Weil Frauen einen hohen Reproduktionsaufwand betreiben, werden sie umworben, so Voland. Und weil Männer lediglich ihre Spermien produzieren und nicht viel in die Reproduktion investieren müssen, konkurrieren sie um die Frauen, die lange und ausgiebig mit ihrem Nachwuchs beschäftigt sind. Aus der Asymmetrie der Kosten für die Fortpflanzung resultieren unterschiedliche strategische Verhaltensweisen zwischen Frauen und Männern. Typischerweise verhalten sich Frauen in der Auswahl ihres Gatten eher selektiv und Männer in der Auswahl ihrer Partnerin eher günstig an die jeweilige Situation angepasst (vgl. Voland 2007, S. 50 f.).

So finden Männer jene Frauen sexy, postuliert der Biologe und Sozialwissenschaftler Eckart Voland in seinem Kapitel »Auf dem Markt der Liebe« (2007), die eindeutige Anzeichen von Gesundheit und Fruchtbarkeit zur Schau stellen, wie beispielsweise die Gesichtssymmetrie. Hingegen suchen Frauen bei den Männern eher Hinweise in der Kategorie der sozialen Platzierung, die eine Absicherung des Nachwuchses sicherstellen, wie etwa Macht, Geld, Ehrgeiz (vgl. Voland 2007, S. 57).

Da Traumpartner und Traumpartnerinnen in der Regel aber nicht zu bekommen sind, regeln Kompromisse auf dem Markt die Nachfrage und das Angebot von Sexualität und Partnerschaft. So stellen ältere Frauen laut Volant weniger Ansprüche an die gesuchten Männer, Männer mit zunehmendem Alter werden hingegen anspruchsvoller. Auch Frauen mit Kindern verfügen über einen reduzierten »Marktwert« und fordern weniger als ungebundene. Je unattraktiver Frauen sich selbst bewerten, desto weniger Ansprüche stellen sie an ihre Sexualpartner. Und je attraktiver sich Männer selbst bewerten, desto mehr sind sie bereit in sexuelle Abenteuer zu investieren und die väterliche Fürsorge zu reduzieren (vgl. Voland 2007, S. 59 f.).

Soziobiologisch sind die Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen laut Volant so zu erklären, dass im Kern gleiche Genotypen (erblich identische Organismen) auf unterschiedlich vorgefundene sozioökologische Rahmenbedingungen und Entwicklungswege Antworten in Form von Verhalten entwickeln. Somit ist die Soziobiologie eine Milieutheorie menschlichen Verhaltens, die auf einer genetischen Basis beruht (vgl. Voland 2007, S. 61).

2.2 Biologische Perspektive

Aus biologischer Sicht kann man Sexualität als den biologischen Reproduktionsmechanismus verstehen, der bei zweigeschlechtlichen Lebewesen eine intergenerative Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen ermöglicht. Der US-amerikanische Evolutionspsychologe David Buss weist darauf hin, dass sich Männer und Frauen in solchen Bereichen voneinander unterscheiden, in denen sie im Laufe der Evolutionsgeschichte wiederholt auf unterschiedliche Anpassungsprobleme gestoßen sind (vgl. Buss 2004, S. 149). Die Sicherung der Nachkommenschaft, also die genetische Replikation durch Sexualität, ist ein solches dauerhaftes Anpassungsproblem.

Im Zeitalter der Geschlechterforschung (Gender Studies) ist die Erinnerung an die biologischen Grundlagen von Sexualität vielleicht erklärungsbedürftig. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass man auch in der Evolutionsbiologie davon ausgeht, dass ererbte Steuerungsmechanismen den Menschen nicht »zwingen«, etwas zu tun, sondern vielmehr als evolutionär bewährte »Vorschläge« interpretiert werden müssen: Sie geben Anstöße, motivieren ihn, sich so und nicht anders zu verhalten (vgl. Bischof 1980, S. 39). Auch ein geschlechtsspezifisches Verhalten im Rahmen der Sexualität ist also nicht genetisch determiniert. Vielmehr ist die Bandbreite möglicher Reaktionsnormen vererbt, innerhalb deren ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlich wird.

Trotz (gendertypischer Betonung) kultureller Überformungen darf man nicht vergessen, dass biologische Prozesse genitale Reaktionsabläufe bestimmen, wie auch hirnphysiologische (insbesondere hormonelle) Aktivitäten die Grundlage der Sexualität sind. Diese biologischen und hirnphysiologischen Aktivitäten sind der Modus für diese Abläufe und sie definieren nicht nur den biologischen Aspekt weitgehend als das, was die Grundfunktion der Sexualität einrahmt und ermöglicht, sondern auch die Formen, wie diese biologische Funktion kulturell und individuell bedient wird. Sie bleiben beiden Geschlechtern unabhängig von der Reproduktionsfähigkeit erhalten und spielen deshalb auch im Alter eine bedeutende Rolle.

2.3 Geschlechtsspezifische Aspekte

Möglicherweise lässt sich das unterschiedliche Verhalten der Geschlechter bezüglich ihrer sexuellen Bedürfnisse auch noch im Alter auf die angelegte sexuelle Asymmetrie zurückführen. Bemerkenswert ist die Beobachtung des aggressiveren Verhaltens bei Männern bezüglich der Partnereroberung, was auch in den Altenhilfeeinrichtungen als Problem aufgerufen wird. Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang. Im Verlauf des Textes werden immer wieder Fälle dargestellt, die auch auf die Aggression im Bereich der Sexualität hinweisen.

Sexualität impliziert psychische Prozesse (seien sie bewusst oder unbewusst) einschließlich der sie ermöglichenden und begleitenden Gefühle: etwa Liebe, Verliebtsein, sexuelle Erregung, Lust usw. Das sind bedeutende Aspekte der Sexualität, die für das Verständnis von Sexualität im Alter von wesentlicher Bedeutung sind. Biologische vor allem aber auch psychische Prozesse sowie die biologischen Abläufe und Aktivitäten finden in kulturell geprägten Mustern und Überformungen statt. Auf der Basis biologischer Asymmetrie wachsen wir in die Rolle als Mann oder als Frau hinein, des sogenannten sozialen Geschlechts. Eine Rolle, die wir ein Leben lang versuchen auszufüllen. In einem solchen »soziokulturellen Kontext« werden nun unweigerlich Bedürfnisspannungen hervorgerufen. Auf ihnen beruht im Allgemeinen die körperliche Anziehung unter den Geschlechtern. Denn dieser soziokulturelle Kontext schließt geschlechtsspezifische und kulturell kontingente Konstruktionen (Vorstellungen, Bewertungen, Interpretationen bei unterschiedlichen Populationen) ein. Diese Konstruktionen sind bei jedem Individuum verschieden, verändern sich unter dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels und können sich innerhalb einzelner Generationen sehr unterscheiden.

Auch im Alter sind geschlechtsspezifische Formen sexueller Bedürfnisbefriedigungen wahrscheinlich. Für beide Geschlechter gilt wohl, dass die sexuellen Bedürfnisse erhalten bleiben – also auch für Frauen. Laut einer empirischen Untersuchung von Kirsten von Sydow 1991 zur psychosexuellen Entwicklung alter Frauen stellt sich heraus, dass bei 69 Prozent der befragten Frauen das Klimakterium keinen wesentlichen Einfluss auf ihr sexuellen Erleben, Verhalten und Interesse hat (vgl. Bamler 2008, S. 19) Eine Studie von Schulz-Zehden (2004) widerspricht sogar einer Verringerung sexueller Bedürfnisse mit Eintritt ins Klimakterium. Hiernach bleibt die Orgasmusfähigkeit der Frauen häufig bis ins hohe Alter erhalten (vgl. Bamler 2008, S. 19 f.). Somit ist auch im Alter und in der Sexualität ein zweiter Strang, unter dem Gender-Aspekt »Frau«, immer mitzudenken3.

 

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1 Hier ist beispielhaft auf Eckhard Voland mit seinen Werken: »Grundriss der Soziobiologie« (2000) und »Die Natur des Menschen« (2007) sowie auf David Buss mit »Geheimnisse der Partnerwahl« (1997) und »Evolutionäre Psychologie« (2004) zu verweisen.

2 Immer dort, wo Aussagen getroffen werden, die sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf alle zweigeschlechtlichen Lebewesen (also auch auf Tiere) beziehen, wird in der Evolutionsforschung gewöhnlich von »Männchen« und »Weibchen« gesprochen.

3 Allerdings ist davon auszugehen, dass in den kommenden Generationen die Haltung zur Sexualität eine andere sein wird. Darauf wird im Kapitel 4, »Gesellschaftliche Perspektive«, genauer eingegangen.

3 SEXUALITÄT IM ALTER –BESTANDSAUFNAHME

Früher – im achtzehnten und auch neunzehnten Jahrhundert – gab es »theoretisch« keinen Sex im Alter. Zum einen weil die Menschen nicht mit einer solch hohen Lebenserwartung rechnen konnten, ihr »Altern« war auf der Skala des zu erreichenden Lebensalters einem niedrigeren Zahlenwert zuzuordnen als heute. Und oft waren sie zudem schon krank. Zum anderen waren sie durch kulturelle Prägungen vom Sex im Alter abgehalten. Auf die historische Entwicklung des Sexualitätsverständnisses wird detailliert im Kapitel 4.2 eingegangen.

Durch die Zunahme der Lebenserwartung und die Veränderungen in der Sexualmoral unserer Gesellschaft, haben sich das Verständnis von Sexualität und besonders der Umgang damit deutlich verändert. Das führt in der heutigen Zeit zu erheblichen Problemen in diesem Bereich, denn es ist ein Verzögerungseffekt bei der Sozialisation von Sexualmoral eingetreten: Jüngere Mitarbeitende in der Pflege können sich eine sexualfeindliche Erziehung allenfalls per Erzählung vorstellen. Sie haben diese Zeit nie oder kaum erfahren, sie war in ihrer Sozialisation nicht vorhanden und ist somit nicht in ihrem emotionalen Unterbewusstsein gespeichert. Dies wird ein Bewohner im Altenheim dann spüren, wenn eine gegenwärtige Situation mit seinem Verständnis von dieser Situation auseinanderfällt. Dieselbe Situation wird von einer jüngeren Pflegeperson als normal toleriert während der ältere Bewohner aufgrund seiner sozialisierten Moralvorstellung nicht damit übereinkommen kann. Wie fühlt sich etwa eine 80-jährige Bewohnerin, die sich bei der Intimpflege von einem Mann unterstützen lassen muss? Das wird seltener der Fall sein, da es überwiegend weibliche Pflegende gibt. Aber das führt gleich zum analogen Problem: Wie gehen männliche Bewohner mit der Intimpflege um, die von Pflegerinnen durchgeführt wird – eine Situation, die gang und gäbe ist?

Eine dann bestehende, derartig weite Generationenkluft kann unüberbrückbar sein, wenn den Mitarbeitenden zudem der entsprechende historische Hintergrund ihrer Bewohner fehlt und sie diesen bei ihren Entscheidungen und Handlungen nicht berücksichtigen. Die folgenden Fragen stehen beispielhaft für individuelle, geschlechtsspezifische und soziokulturelle Aspekte:

Wer fragt eine lesbische Frau, wie weit ein männlicher Mitarbeiter sich ihrem Körper nähern darf?

Was ist mit den alten Menschen, die Sexualität für sich gänzlich ablehnen, den sexuellen Übergriffen ihrer demenziell betroffenen Mitbewohner aber dennoch ausgesetzt sind?

Wie erhält man Kenntnis und berücksichtigt die Biografie einer alten Dame, die während ihrer Jugend vergewaltigt wurde?

Die Probleme beginnen oft schon früher und nicht erst im Altenpflegeheim. Ein paar Beispiele im Folgekapitel mögen dies veranschaulichen.

3.1 Gelebte Sexualität

3.1.1 Zu Hause

Der Einblick in Paarbeziehungen in punkto Sexualität ist in der Regel nicht vorhanden – von der eigenen einmal abgesehen. Über empirische Untersuchungen oder Therapeuten, wenn sie mit den Problemen jener Gruppe betraut werden, lässt sich jedoch einiges herausfinden. Und auch in der Altenpflege bekommen Pflegende und Betreuende eine Menge mit, wenn sie denn hinsehen wollen.

So weiß Christine Allen (2011) aus ihrer Praxis als Psychotherapeutin viel zu berichten. Liest man ihre Texte, wird schnell klar, dass sie aus ihren Kontakten mit älteren Menschen die unterschiedlichsten Antworten erhalten hat. Ihre Frage lautete: Kann oder darf man im Alter noch das Glück der Liebe erfahren?

Allen selbst differenziert einerseits zwischen den Antworten der alten Menschen, die noch in einer Beziehung leben und andererseits denen, die dies nicht tun. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sie großen Abweichungen unterliegen. So hängen die Antworten u. a. davon ab, wie diese Menschen früher ihre Sexualität gelebt und erlebt haben. Die Bandbreite der Antworten reicht von »Ich bin froh, dass es vorbei ist« (Allen 2011, S. 131) bis hin zu einer tiefen Sehnsucht nach diesem vergangenen Glück.

Auch andere Studienergebnisse, wie sie z. B. die Psychologin Kirsten von Sydow in ihren Büchern »Lebenslust« (1993) und »Die Lust auf Liebe bei älteren Menschen« (1994) beschreibt, zeigen: Die gelebte Sexualität variiert im Alter genauso wie die der Jüngeren. Frauen über 70 Jahre sind häufig verwitwet – so ist es naheliegend, dass ihre gelebte Sexualität meist auf Selbstbefriedigung beschränkt bleibt. Die über 70-jährigen Männer streben hingegen den Geschlechtsverkehr an (Allen 2011, S. 132). Sowohl Männer als auch Frauen sind im fortgeschrittenen Alter noch sexuell aktiv, allerdings sind es prozentual mehr Männer als Frauen.

3.1.2 In Pflegeeinrichtungen

Sexualität wird nicht nur zu Hause hinter der verschlossenen Türe oder im Schlafzimmer gelebt, sondern überall wo Menschen aller Altersstufen leben, somit auch in den Pflegeeinrichtungen.

Eine Wohnbereichsleiterin erzählt

Eine leitende Pflegefachkraft erzählt von einem Paar, das anfangs noch zu Hause lebt: Frau Linde4 ist gestresst. Ihr Mann Fritz, der inzwischen an einer mittelgradigen Demenz leidet, sucht häufig den körperlichen Kontakt zu ihr. Er bedrängt sie geradezu, fordert sie auf, sich zu entkleiden. Sie grenzt sich ab und vermittelt eindeutig, dass sie das nicht wünscht – schon gar nicht in dieser Häufigkeit und Art und Weise. Doch schon nach kurzer Zeit vergisst Herr Linde sein eigenes Verhalten und die ihm gesetzten Grenzen.

Seine Frau, bereits mit seiner Pflege hoch belastet, verstirbt überraschend. Für Herrn Linde wird nun eine Pflegeeinrichtung gefunden. Angehörige berichten, was sich daheim bei ihm zugetragen hat. In der Einrichtung ergibt sich folgendes Bild: Über den Verlust seiner Frau stürzt Herr Linde zunächst in eine tiefe Traurigkeit. Nach einer längeren Zeit wird er zunehmend anhänglich gegenüber den Pflegerinnen und »tapert« hinter ihnen her, sodass es ihnen schon etwas lästig wird. Die Pflegeteamleitung spricht mit dem zuständigen Arzt, der Herrn Linde betreut. Auf seine Veranlassung hin soll Herr Linde ein Medikament mit einer Trieb hemmenden Wirkung bekommen. Das Team ist darüber sehr gespaltener Meinung – es entwickeln sich Spannungen im Team, insbesondere, als sich die Pflegeteamleitung durchsetzt und eine Sexualbegleitung für den Bewohner einleitet. Denn sie kann die Gabe von Medikamenten mit einer Trieb absenkenden Wirkung zur Vereinfachung der Pflegeumstände aus ethischen Gründen nicht vertreten.

Ein ambulant behandelnder Physiotherapeut berichtet aus einem Heim

In einer Pflegeeinrichtung für demenziell erkrankte Menschen dringen öfter Geräusche aus dem Zimmer eines Bewohners. Die diensthabende Pflegerin fühlt sich verpflichtet, nach dem Rechten zu sehen und betritt nach Anklopfen das Zimmer, obwohl der Bewohner darauf nicht reagiert hat. Sie trifft den Mann masturbierend an, entschuldigt sich für die Störung und dokumentiert den Vorfall. In der Akte des Klienten häufen sich derartige Beobachtungen.

Eine Sexualbegleiterin berichtet auf dem Pflegekongress CareDate 2012

Herr Klein lebt in einem Seniorenheim, er ist an Korsakow-Demenz5 erkrankt. Da er die Pflegerinnen, die sein Zimmer betreten, häufig als Sexualobjekte ansieht, ist es bereits zu handgreiflichen Übergriffen ihnen gegenüber gekommen. Alle Abgrenzungsversuche und Erklärungen des Personals gegenüber Herrn Klein bleiben wirkungslos, da er sich anschließend weder an die Vorfälle noch an die Abgrenzungen erinnert. Das Personal will das Zimmer von Herrn Klein nicht mehr betreten und ruft eine Sexualbegleiterin zu Hilfe.

Ein Pfleger erzählt

Vor dem Dienstzimmer einer Pflegeeinrichtung steht ein Bewohner und masturbiert zum wiederholten Mal. Auf Aufforderungen des Personals, den Flur zu verlassen und sich in sein Zimmer zurückzuziehen, reagiert er nur widerwillig. Eine Pflegerin beklagt sich, mit dem masturbierenden Bewohner nicht konfrontiert werden zu wollen und ihre Distanz zu ihm und diesem Thema wahren zu wollen.

Die sehr direkte Reaktion einer Pflegeexpertin zum Thema lautet folgendermaßen:

»Es muss etwas passieren in der Altenhilfe mit dem Thema Sexualität, es geht so nicht mehr weiter! Ich habe persönlich erlebt, dass ein Kollege in einer Altenhilfeeinrichtung gekündigt hat, weil er die masturbierende Oma im Gemeinschaftraum nicht mehr ertragen konnte. Er hat gekündigt, er hat das nicht mehr ertragen, wegen ihr! Außerdem gibt es ein Zimmer, in das niemand mehr hineingehen will, weil alle Angst vor dem ›geilen Bock‹ dort haben. Und dann hätten auch noch die Kollegen gestritten, der eine habe gesagt, ›der [geile Bock] sei ja nur so, weil er [der Kollege] so verklemmt mit der Sexualität sei‹.«

 

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4 Alle Namen wurden geändert.

5 Korsakow-Syndrom ist eine zuerst bei Alkoholikern beschriebene Gedächtnisstörung. In ihrer Summe führen die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses oft dazu, dass sich die Patienten in ihrer örtlichen und zeitlichen Umgebung nicht mehr zurechtfinden.

4 GESELLSCHAFTLICHE PERSPEKTIVE

In der HELIOS Klinik Berching wurde im Frühjahr 2009 zum Thema »Sexualität im Alter« eine Studie durchgeführt (vgl. Buchner et al. 2011, S. 69), bei der es gelang, die »alten Alten« zwischen 65 und 89 Jahren zu berücksichtigen. Vorrangig befragt wurden die Geburtsjahrgänge zwischen 1920 und 1944 (vgl. Buchner et al. 2011, S. 91).

Auch diese Studie zeigt – neben vielen anderen relevanten Ergebnissen –, dass Sexualität im Alter nicht erlischt, sondern zumeist ein Bestandteil des Lebens bleibt. Dies ist allerdings bei Männern offensichtlich mehr der Fall als bei Frauen – vor allem wenn der Partner verstorben ist, so Vera Bam-ler von der TU Dresden, Fakultät für Erziehungswissenschaften. Dennoch bleibt es wichtig, den Mensch in all seinen Facetten wahrzunehmen, auch als Wesen mit sexuellen Wünschen und Bedürfnissen.

Einige Verhaltensweisen von Altenheimbewohnern oder Patienten können durch die Berücksichtigung sexueller Wünsche erklärbar werden. Der Umgang mit den Bewohnern kann dann erheblich verändert und ggf. erleichtert sein. Ebenso wichtig ist es, die sexuelle Aktivität in Anamnesegesprächen und bei der Therapieplanung zu berücksichtigen (vgl. Buchner et al. 2011, S. 94). Denn die »gravierenden Folgen der angenommenen ›Geschlechtslosigkeit‹ alter Menschen zeigt sich gerade auch in Altenheimen, die auf sexuelle Bedürfnisse ihrer Bewohner nicht eingerichtet sind« (Lexikon der Psychologie 2000, S. 60).

Aufgrund der Pluralisierung von Alter – verschiedene Lebensweisen und unterschiedliche Lebensformen sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft – werden alte Menschen heute nicht mehr als »einheitliche Masse« gesehen, auf die mit »ein und denselben« Interventionsmaßnahmen reagiert werden müsste (Bamler 2008). Vielleicht stehen deshalb heute Pflegekräfte in der Verantwortung, auf die Pluralität der unterschiedlichen Lebensweisen mit eben auch sexuellen Bedürfnissen der Adressaten in den Pflegeeinrichtungen reagieren zu müssen?

4.1 Grundverständnis der gesellschaftlichen
Entwicklung – Tabuisierung

Wie kommt es dazu, dass Sexualität im Alter noch häufig ein absolutes Tabuthema ist, obwohl, so die Psychologin Karin Zettl-Wiedner, die Sexualität ein physiologisches Grundbedürfnis ist. Laut erklärender Studien ist Sexualität im Alter sogar das beste Anti-Aging-Mittel. Denn Sexualität verbessert das Immunsystem, wirkt wie ein Schmerzmittel, stärkt die Muskulatur und hilft auch gegen Depressionen (vgl. Zettl-Wiedner 2011, S. 123).

Bedeutend für unsere Sichtweise auf die Sexualität im Alter ist zunächst der historische Blick auf den gesellschaftlichen Wandel mit den einhergehenden Sozialisierungsprozessen von Individuen.

So sind Frauen, die zwischen 1910 und 1930 geboren wurden, wie auch die Frauen in den nachfolgenden Jahrzehnten des zweiten Weltkriegs durch zahlreiche einschneidende gesellschaftliche Bedingungen geprägt, denen sie ausgesetzt waren. In den 1950er- und 1960er-Jahren ging es um den Aufbau einer funktionierenden Volkswirtschaft und die Wiederherstellung des bürgerlichen Ideals der Kleinfamilie – mit unterschiedlichen Ausprägungen in Ost- und Westdeutschland: In der DDR erfolgte es mit der Durchsetzung der Gleichberechtigung zwischen Eheleuten und voller Berufstätigkeit der Frauen, in der BRD mit der Umsetzung des Hausfrauenmodells und diversen Einschränkungen in den Bereichen Berufstätigkeit der Frau, Schwangerschaftsabbruch sowie der ehelichen Pflicht der Frau zum Geschlechtsverkehr (vgl. Bamler 2008, S. 82).

Viele Frauen dieser Jahrgänge lernten, Sexualität sei etwas »Schmutziges«. Mit der Heirat erlebten sie Sexualität als notwendiges Übel, häufig mit Schuldgefühlen und Ängsten besetzt. Eine uneheliche Schwangerschaft konnte das Leben der betroffenen Frau ruinieren (vgl. Bamler 2008, S. 83). Frauen dieser Altersgruppen gehören in den heutigen Altenpflegeeinrichtungen zu den ältesten Bewohnerinnen.

Die sexuelle Revolution in den 1960er-Jahren beziehungsweise nach der Wiedervereinigung von Deutschland brachte eine enorme Sexualisierung von Frauen und eine grassierende Kommerzialisierung von Sexualität mit sich. Außerdem verliert seit den 1970er-Jahren die Ehe ihre Monopolstellung, vielfältige Beziehungsformen entwickeln sich (vgl. Bamler 2008, S. 83). Auch die Frage nach Selbstbefriedigung ist deutlich abhängig von der Generationenlage. Laut einer Studie der Sexualforscher Gunter Schmidt und Silja Matthiesen (2003) stellte sich heraus, dass Personen der »vorliberalen Generation« (1942 geboren) innerhalb von vier Wochen halb so oft eine selbsterotische Aktivität zeigten wie Personen, die der »Generation der sexuellen Revolution« angehören (1957 geboren). Für die meisten 45-Jährigen hingegen ist die Masturbation neben einer befriedigenden partnerschaftlichen Sexualität eine eigene Form der Sexualität, die ausgeübt werden kann (vgl. Kolland 2011,S. 49).

Die Autorin Elfriede Vavrik berichtet, sie habe mit 79 Jahren ihren ersten Orgasmus erlebt. In ihrem Buch »Nacktbadestrand« beschreibt sie, wie es ihr gelungen ist, sich von den tradierten »ansozialisierten« Normen einer verklemmten Sexualität zu befreien. Sie glaubt zwar, ihren Altersgenossen nicht mehr helfen zu können, ist sich aber sicher, dass die jungen Frauen ihre Offenheit mit in ihr Alter nehmen werden (vgl. Vavrik 2011, S. 99 f.).

4.1.1 Bedeutungskonstruktionen von Sexualität

Weil die Bewertung bzw. die Erfahrung von Sexualität also auch das Resultat soziokultureller Bedingungen ist, ist für unsere Diskussion in der Altenpflege besonders wichtig zu wissen, über welche individuellen Bedeutungskonstruktionen alte Frauen und Männer verfügen. »Dabei wird unter der ›Bedeutung von Sexualität‹ verstanden, welchen Stellenwert, Sinn und welche Relevanz ein Individuum dem Gegenstand ›Sexualität‹ generell zuspricht, unabhängig davon, ob es sich um unbewusste oder bewusste Prozesse handelt« (Bamler 2008, S. 87). Hierbei kann laut Bamler die Sexualität abgestuft zwischen zwei sich gegenüberliegenden Polen – von hoher Bedeutung bis hin zu bedeutungslos – angesiedelt werden.

Im Umgang mit alten Menschen ist es bedeutsam, die aufgezeigten historisch gesellschaftlichen Entwicklungen zu kennen. Auf dieser Basis kann für die vielfältigen individuellen Einstellungen gegenüber der Sexualität ein Verständnis aufgebracht werden. Es sollte für Pflegende und Betreuende nachvollziehbar sein, wenn eine alte Dame äußert: »Ich bin froh, dass es mit der Sexualität ein Ende hat«. Nachvollziehbar insofern, dass bekannt ist, was es bedeutete, als Mädchen in der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts aufgewachsen zu sein. Es dürfte dem Pflegepersonal leichter gelingen, eine alte Dame oder einen alten Herrn verständnisvoll in ihren alltäglichen Bedürfnissen zu begleiten, wenn eine ungefähre Vorstellung von dem gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Zeit besteht.

4.2 Filme

Es gibt Filme, die das Thema Sexualität bei alten Menschen oder bei Menschen mit Behinderungen mehr oder weniger eng aufgreifen. Da Themen, die über das Medium Film Eingang in die Gesellschaft finden, oft eine größere Präsenz erfahren, wird hier eine Auswahl von Filmen vorgestellt. Die angesprochenen Filme sind über Internet, Videothek oder Handel zugänglich.

4.2.1 »Wolke 9«

Der Focus schreibt über diesen Film:

»Regisseur Andreas Dresen gelingt mit seinem Liebesfilm ›Wolke 9‹ ein ehrlicher und unverblümter Blick auf das Bedürfnis nach Liebe und Sex im Alter.«6

Der Film Wolke 9 veranschaulicht, dass ein Sich-verlieben auch im fortgeschrittenen Alter durchaus möglich ist. Er schafft Raum dafür, dass die Bedürfnisse nach Körperlichkeit und Sexualität – neben dem ohnehin grundlegenden Bedürfnis danach – noch einmal erneut belebt werden. Die körperlichen Aspekte werden explizit nicht ausgeklammert, gezeigt werden auch nackte, alte Körper beim Liebesakt – die Beteiligten sind dabei authentisch. Das bringt die Protagonisten dieses Films u. a. in schmerzliche Situationen: So steht etwa Brigitte, die sich in den fast achtzigjährigen Karl verliebt hat, vor der Entscheidung ihren Ehemann Werner zu verlassen. Die neue Liebe führt zu einem Familiendrama.

Nachdenklich stimmende Szenen werfen zusätzliche Fragen auf: Bei einem Besuch in einem Altenheim erscheint ein Mann im Rollstuhl, Werner sagt daraufhin zu seiner Frau Brigitte: »Wenn ich mal so enden sollte, kannst Du mich in den Wald führen und erschießen.«

In einer anderen Szene wird der Zuschauer mit Ausdrücken aus der Vulgärsprache konfrontiert. Entsprechend fragt Karl nach einem Liebesspiel mit Brigitte: »Weißt du eigentlich wie Achtzigjährige miteinander vögeln? Sie macht Kopfstand und er hängt ihn einfach oben rein.« Beide lachen herzhaft und genießen ihr Beisammensein. Doch das »lustvolle Spiel« nimmt ein tragisches Ende.

4.2.2 »Silber Sinnlich Sexy«

Vanessa del Rae ist Moderatorin, Buchautorin und bricht mit ihrem Film »Silber Sinnlich Sexy«7 eine Lanze für ältere Menschen. In ihrem Film gibt sie ganz konkrete, praktische Tipps zum Umgang mit dem unausweichlichen Prozess des Älterwerdens. Nicht zuletzt zeigt sie, wie Handicaps ins Positive gewendet werden können und, dass Sexualität nicht enden muss und die Bedürfnisse selbst mit den im Alter zunehmenden Erkrankungen und Gebrechen bestehen bleiben können.

Außerdem ist del Rae Sex-Coach für Sinn und Sinnlichkeit, Kommunikation, Sexualität und L(i)ebenslust. Zu ihrem Kundenkreis gehören überwiegend Frauen zwischen fünfunddreißig und fünfundsiebzig Jahren. Sie berät Menschen, damit diese ihre Sexualität möglichst unbeschwert auszuleben vermögen.

4.2.3 »Die Heide ruft«

Hierbei handelt es sich nicht direkt um einen Film zur Sexualität alter Menschen, sondern um den Umgang mit der Sexualität von Menschen, die mit einer Behinderung leben und eine Sexualassistenz in Anspruch nehmen.

Über diese Thematik wird im Bereich der Behindertenhilfe bereits seit vielen Jahren debattiert. Im Vergleich zur Sexualität im Alter ist hier inzwischen ein relativ offener Umgang mit dem Thema erarbeitet worden.

Der Film zeigt neben den positiven Aspekten einer Sexualbegleitung auch die Möglichkeiten auftretender Probleme und Fragen:

Was passiert, wenn sich ein Kunde in eine Sexualbegleiterin verliebt, oder sie gar heiraten möchte?

Wer hilft ihm, mit seinen Gefühlen fertigzuwerden?

Sind diese Aspekte eine Angelegenheit der Selbstverantwortung, die er mit sich selbst ausmachen muss?

4.3 Kampagne

Kampagnen zu diesem Thema gibt es bisher noch eher selten, so wird im Folgenden nur eine aufgeführt, die im Internet aufzurufen ist.

4.3.1 »DOCH NOCH – Sex im Altersheim«8

Ein weiterer Beitrag, der Kurzfilm9 »DOCH NOCH – Sex im Altersheim«, zeigt deutlich die Tabuisierung der Sexualität alter Menschen im Altenheim. Vanessa del Rea startete für diesen Film eine Aufklärungskampagne, die im Kurzfilm erläutert wird. Für die Kampagne schaltete sie Anzeigen in fünfzehn Tageszeitungen und rief zu einer Gesprächsrunde zum Thema »Sexualität im Altersheim« auf. Darüber hinaus trat sie mit vielen Einrichtungen in Kontakt, um das Interesse an der Materie anzuregen.

Die Rückmeldungen waren ernüchternd: Trotz intensiver Werbeversuche waren lediglich vier Teilnehmer an diesem von ihr organisierten Gesprächsabend anwesend.

Außerdem berichtet del Rae in einem Interview im Film über einige Gespräche, die sie mit Mitarbeitern der Partei/des Verbands »Graue Panther« sowie mit Professionellen aus Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern geführt hat. Das Thema »Sexualität im Alter« wurde etwa von den Grauen Panthern, die ja das Ziel verfolgen, die Lebensqualität alter Menschen zu verbessern, nicht ins eigene Programm aufgenommen. Des Weiteren seien viele Einrichtungen der Pflege sowie Krankenhäuser gegenüber dieser Thematik ablehnend eingestellt. Häufig würden Pflegende äußern: Nein, das Thema Sexualität sei etwas Privates, darüber spreche man hier nicht.« Oder: »Ja, darüber würde man eigentlich gerne sprechen, man wisse nur nicht wie?«

Vanessa del Rae bekundet ein ebensolches Desinteresse beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Begründung, dies sei nicht prüfungsrelevant. Das zeige, wie groß die Hürden noch seien, sich dem Thema in der Lebensrealität der betroffenen Bewohner anzunähern, so del Rae.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842685888
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Altenpflege Bedürfnisse Betreuung Sex Sexualität stationäre Pflege

Autor

  • Ruth van der Vight-Klußmann (Autor:in)

Ruth van der Vight-Klußmann ist Soziologin und M. A. in Sozialer Arbeit. Sie betreut Menschen in schwierigen Lebenslagen und ist als gesetzliche Betreuerin selbstständig tätig.
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Titel: (Kein) Sex im Altenheim?